Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
Wiederholung anfühlte. Sie hatte irgendwo von jemandem gelesen, der an so etwas litt, einer Läsion in dem Teil seines Gehirns, der für das Zeitempfinden zuständig war. Ist Zeit wirklich nur das – unser Empfinden dafür, wie schnell sie vergeht oder nicht vergeht?
Dann geht der Flieger sanft zum Landeanflug über. Der Flugkapitän macht eine Durchsage, dass sie fünf Minuten früher als geplant am Gate sein werden. Karen überkommt ein Gefühl wie vor der Weihnachtsbescherung, dieses fantastische, elektrisierte Wissen um die verpackten Geschenke unterm Baum, auch wenn der Baum in Wirklichkeit ein Flughafen ist und das verpackte Spielzeug Warren. Also daran könnte ich mich gewöhnen, denkt Karen. Wenn jeder Moment des Lebens sich anfühlte wie eine Weihnachtsbescherung.
Eine eingeschnappte Flugbegleiterin gibt Karen die Anweisung, ihre Lehne für die Landung wieder hochzustellen. Impertinente Zicke . Karen beschließt, die Stewardess zu ärgern, indem sie bis zum letzten Moment wartet. Dann nimmt sie ihre neue Sitzposition ein und sinniert über Warren. Was weiß sie von ihm? Nur das, was er selbst beliebte, ihr mitzuteilen, und die Eigenschaften, die sie ihm aufgrund seiner raschen-aber-nicht- zu -raschen-und-daher-nicht-psycho-wirkenden Antworten auf ihre E-Mails zuschreibt. E-Mails, in denen sie ihm von ihrem Job (als Sekretärin für drei Psychiater, die allesamt völlig verrückt sind), ihrer Tochter (Casey, der launenhaften fünfzehnjährigen Violinistin), ihrem Ex (Kevin, dem Drecksack; wenigstens hat er vor, Caseys Studium zu finanzieren) erzählt hat und … nach diesen drei Knallerthemen, was soll da noch kommen? Wir sind schnell mit allem durch, was uns individuell macht; wir alle haben viel mehr miteinander gemein, als wir nicht miteinander gemein haben. Als Karen bei den Doktoren Marsh, Wellesley und Yamato anfing, hatte sie geglaubt, wenigstens die voyeuristische Erregung genießen zu können, wenn sie die Sitzungsprotokolle der Ärzte abtippte – was für ein Spaß, live dabei zu sein, wenn andere Menschen ihr Leben voll gegen die Wand fahren. Und am Anfang war es auch toll, oder besser gesagt: Lieber Warren, am Anfang war es toll – aber dann fing es plötzlich an, nicht mehr so toll zu sein, denn zwischen den Selbstmorden, Stalkings, Nervenzusammenbrüchen und Drogenüberdosen zeichnete sich doch ab, dass das Thema Verrücktsein, pardon, psychische Störung, schnell eintönig wird: Paranoia, Autismus, Depressionen, Panikattacken, Zwangsstörungen, ADHD und Krankheiten, die durch Hirnverletzungen oder Älterwerden ausgelöst werden – na ja, du weißt schon. Diese ganzen Oliver-Sacks-Bücher und TED -Konferenz-Ansprachen im Internet erwecken den Eindruck, Verrücktheit sei originell, witzig und faszinierend. Aber glauben Sie mir, es geht nur darum, die Leute zur Einnahme ihrer Medikamente zu bewegen und nicht wahnsinnig zu werden, wenn die ADHD s im Wartezimmer den Rappel kriegen und mit den Fußspitzen gegen das Regal mit Ausgaben von InStyle trommeln.
In seiner Antwort hatte Warren geschrieben, dass er einmal gedacht habe, es könne ganz interessant sein, Priester zu sein, weil man dabei sicher ähnliche Geschichten zu hören bekäme, den dunklen Seiten des Menschen bei der Arbeit zusehen könnte, aber dann habe er sich überlegt, es würde wohl eher steinlangweilig sein, denn es gab ja bloß sieben Todsünden, nicht mal acht, und wenn man von diesen sieben Sünden die Nase voll hätte, bliebe einem nichts anderes übrig, als sich auf seiner Seite des Beichtstuhls wieder Sudoku-Rätseln zuzuwenden und darum zu beten, dass irgendwer endlich eine neue Sünde erfindet, die die Sache wieder spannend macht.
Sudoku? Ich liebe Sudoku , hatte Karen geantwortet. Warren mochte es auch. Sie hatten mittlerweile einen ziemlich guten Draht zueinander, entdeckten immer mehr Gemeinsamkeiten.
Warren: Karen erwartet einen etwa 1,80 Meter großen Mann, dessen Haar sich lichtet, aber noch eine gewisse Fasson hat, einigermaßen attraktiv – in jedem Fall attraktiv genug, um sexy zu wirken, aber nicht so attraktiv, dass sich Karen permanent unsicher fühlen müsste, wenn Kellnerinnen, Sekretärinnen oder Studentinnen in der Nähe wären. Augenblick mal – warum mach ich mir was vor? Ein Mann muss nur in eine Buchhandlung gehen und nach Büchern zum Thema Einsamkeit suchen, und alle Frauen stürzen sich auf ihn. Wenn eine Frau dasselbe macht, ist der Laden ruck, zuck leer. Ganz egal, um welchen Typ Mann es
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