Spiels noch einmal
schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Aber sie müssen sich im Stadion in Montrouge melden.«
Hiero hatte sich hingesetzt, seine langen Beine ausgestreckt, seine Arme über der Brust verschränkt. Lilah drehte sich um und sah ihn nachdenklich an.
»Tja, das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte Chip müde. Er hatte sich in den letzten Monaten verändert. Seine aufbrausende Art, die groben Reden, dieses unbarmherzige Stochern in alten Wunden, das war alles weniger geworden. Er setzte sich auf. Sein Oberkörper war nackt, sein behaarter Rücken sah gut trainiert und muskulös aus.
Delilah wandte sich ihm zu, ihre grünen Augen waren düster. »Hast du das schon gesehen?« Sie hob einen Zipfel des Vorhangs hoch und deutete hinaus. Vom Quai d’Orsay sahen wir einen Rauchfaden aufsteigen. Der Himmel darüber war bleigrau von dem schwarzen Qualm. Mir war, als könnte ich ihn riechen.
»Sie verbrennen Dokumente«, sagte sie. »Die Deutschen haben die Maas überschritten. Sie sind auf dem Weg hierher.«
Nach einer Weile sagte Chip: »Und?«
»Es ist nur eine Frage der Zeit, drei Wochen, drei Monate.« Sie zuckte die Achseln. »Die halbe Stadt ist in Panik. Die andere Hälfte weiß nur noch nicht, was los ist. Paris wird Kriegsgebiet werden, in den Straßen wird gekämpft werden.«
»Das gibt ein Massaker.«
Sie schwieg.
»Die Krauts sind im Anmarsch«, sagte ich zu Hiero.
Er nickte nur düster und zupfte an seinen langen Fingern herum.
»Louis hat Glück gehabt«, sagte Chip verbittert. »Ich wär froh, wenn ich jetzt auch im Süden wäre.« Er wickelte sich die Decke um die Hüften, stand auf und trat ans Fenster.
Delilah setzte sich neben den Jungen. »Wir brauchen Visa, wir müssen weg aus Frankreich«, sagte sie.
»Was ist mit Louis?« Chip drehte sich um. »Willst du ihn da im Süden sitzen lassen?«
»Um Louis mach ich mir keine Sorgen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Chance, Lilah. Alle wollen weg von hier. Und der Junge ist Deutscher.« Ich sah Hiero an. »Lilah meint, sie will Visa besorgen, damit wir weg können.«
Er warf ihr einen verdrossenen Blick zu, dann schaute er wieder mich an. »Das wird nicht funktionieren«, murmelte er. »Ich komm nicht weg von hier. Ich bin ein Feind, Sid. Kapiert sie das nicht?«
Ich zuckte die Achseln. »Sie hört nicht auf mich.«
»Kommen sie wirklich, die Nazis?«, fragte er.
Ich nickte.
»Und Louis ist immer noch in Bordeaux?«
»Nehm ich an. Ich glaube nicht, dass er zurückkommt.«
Hiero zuckte wütend mit den Schultern, sein Gesicht wurde plötzlich ganz starr. »Dann ist die Plattenaufnahme gestorben«, sagte er tonlos. »Einfach so.«
Ich spürte, wie ein ganz fieses, bösartiges Triumphgefühl in mir aufstieg, als ich ihn so sah. Ich unterdrückte es.
Delilah massierte nervös ihren Nacken. »Wir müssen nach Lissabon. Dort nehmen wir ein Schiff.«
»Du willst den Jungen nach New York schaffen?«, sagte ich. »Vergiss es, Lilah. Nie und nimmer.«
»Natürlich braucht er Papiere, klar.«
Chip schnaubte. »Und wo willst du die hernehmen?«
Sie dachte nach. Eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. »Ich kenne Leute. Und die kennen wieder Leute.«
»Klingt nach ganz schön vielen Leuten«, sagte Chip. »Wieso setzen wir nicht gleich eine Annonce in die Zeitung?«
»Es wird was kosten«, sagte ich.
»Was? Die Annonce?«
Ich warf ihm einen strafenden Blick zu. Er schüttelte nur den Kopf. Lilah wirkte zu Tode erschöpft, mir wurde ganz elend von dem Anblick.
Und so fing sie an, ihren Plan zu verwirklichen.
Sie meinte, wir sollten den Jungen in die USA bringen, dort wäre er in Sicherheit. Das stimmte natürlich, ganz Europa stand in Flammen. Aber man musste dem Jungen erst einmal einen vorzeigbaren Pass besorgen, dann brauchten wir alle die nötigen Visa, um nach Spanien und Portugal reisen zu können. Von Lissabon fuhren jeden Tag Schiffe nach New York, sagte sie.
Ein paar Tage später machten wir uns auf den Weg zu einem Treffen mit einer anonymen Kontaktperson. Wir gingen durch die sommerlichen Straßen, vorbei an Leuten, die auf Sonnenterrassen saßen und Mineralwasser tranken und miteinander plauderten, als wäre nichts geschehen, als wäre der Krieg nur eine ferne Fatamorgana. Ich starrte Lilah an. Sie hatte tief eingefallene Augen und schwang angestrengt ihre dünnen Arme, während sie eilig dahinschritt. Mann, sie tat mir leid.
Sie spürte meinen Blick und sah mich mit dunklen Augen an. Ich schaute weg, betrachtete all die
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