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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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prächtigen Gebäude. »Hier gibt’s jede Menge Platz, wo man Geschütze aufstellen kann«, sagte ich. »Wenn es wirklich so weit kommt.«
    Sie lachte. Es klang wütend. »Die schlachten die französischen Armeen ab, Sid. Was meinst du, was die mit Zivilisten machen werden?«
    Ich wurde rot. Das Mädchen hatte so eine Art an sich, dass man sich vorkam wie ein Idiot.
    »Bist du sicher, dass du nicht lieber Chip mitnehmen willst?«
    »Chip ist ein bisschen zu auffällig unter lauter Weißen.«
    Ich errötete noch mehr.
    Sie führte mich zu einem großen Kino auf der anderen Seite der Seine, wo in einer Matinee der Film Pygmalion gezeigt wurde. Die Leute schlenderten so langsam herum, als wären sie eigentlich gar nicht besonders scharf darauf, den Film zu sehen, sondern als hätten sie einfach nur gerade nichts Besseres zu tun. Die Sonne blendete mich, und mir lief der Schweiß den Rücken hinunter, als ich an die Kasse trat, um Karten zu kaufen. Wir gingen hinein.
    Das Kino war ziemlich voll. Es roch nach Zigarettenrauch und gerösteten Erdnüssen. Ich hatte Angst, dass wir gar keine drei freien Plätzen nebeneinander finden würden, aber Delilah schritt ganz zielsicher durch den Mittelgang und ließ sich auf einem der gepolsterten Sitze nieder. Ohne mich zu beachten, legte sie ihren Schal und ihre Handtasche auf den freien Platz neben ihrem. Aus der Tasche schaute deutlich sichtbar der braune Umschlag heraus, der unsere Pässe und das Geld enthielt.
    »Ist dein Kontakt schon da?«, flüsterte ich nervös. Ich
warf einen Blick auf die Leute hinter uns, lauter Männer mit müden Augen. Die Lichter gingen aus.
    »Verdammt, Sid. Dreh dich um.«
    Die Wochenschau fing an. Ein blauer Lichtstrahl schnitt durch den Rauch in der Dunkelheit. Plötzlich fingen die Leute zu johlen an, einige schrien etwas, auch Buhrufe waren zu hören. Auf der Leinwand waren französische Infanteristen in Schützengräben und auf dem Marsch zu sehen. Ich verstand nicht, was gesagt wurde, aber die Bilder waren deutlich genug. Deutsche Soldaten, die sich mit erhobenen Händen ergaben. Britische Flugzeuge, die kühn in einen furchterregend leeren Himmel abhoben. Krauts, die vom Schlachtfeld flohen, die sich von Außengebäuden und Scheunen zurückzogen. König Leopold ließ seine Augen zornig blitzen, und Pétain stand fest und unerschüttert.
    »Was sagen sie?«
    Lilah verzog das Gesicht. »Wir halten die Deutschen in Belgien auf. Wir rücken vor.«
    »In Richtung Paris vielleicht.« Ich lächelte bitter.
    »Pssst.«
    Mein Blick fiel auf ihre Tasche, und ich zuckte zusammen. »Verdammte Scheiße.« Ich zeigte auf den Sitz neben ihr. »Er ist weg! Der Umschlag ist weg.« Ich drehte mich um und starrte angestrengt in die Dunkelheit.
    Lilah zog mich am Arm und sah mich kalt an. »Du sollst nach vorn schauen, Sid. Herrgott noch mal!«
    Ich war nervös, hampelte mit den Beinen, wischte meine schweißigen Hände an meiner Hose ab. »War’s das? Was wollen wir dann noch hier?«
    Sie hörte gar nicht zu.
    »Okay, gehen wir.«
    Aber sie hielt mich fest. Ihre Handgelenke waren ganz dünn; bestimmt aß sie nicht genug. Sie hatte diesen besonderen Geruch nach klarem Wasser an sich. »Wir wollten uns einen Film ansehen, hast du das schon vergessen? Also, amüsier dich.«
    Pygmalion . Mann, das war vielleicht ein Mist.

    Und dann warteten wir. Tage vergingen. Jeder von uns hatte Angst, und keiner gab es zu.
    Dann, von einem Tag zum nächsten, hörte der Junge zu essen auf. Er hatte sich bis dahin kärglich genug von Wasser, Rotwein, Gin und Erdnüssen ernährt, aber jetzt schien es ihm plötzlich unmöglich geworden zu sein, überhaupt noch etwas zu sich zu nehmen. Das beste Essen der Welt konnte ihm nicht helfen, er wurde krank, sobald er nur ein paar Bissen aß. Man hätte meinen können, dass ihn allein seine rastlosen Wanderungen durch Paris am Leben erhielten und die ständig wachsende Furcht.
    Nicht dass es besonders viel zu essen gegeben hätte – Butter, Zucker, Brot, Eier, alle Lebensmittel waren mittlerweile knapp. Kaffee gab es in unserer Wohnung gar nicht mehr, wir tranken eine scheußliche Zichoriebrühe, die mit Sacharin gesüßt wurde. Aber der Junge rührte nichts von all dem an, was wir mühsam zusammengebettelt hatten. Er wurde dünner und dünner, schnallte den Gürtel bis zum letzten Loch, seine Hose schlotterte, sein Hemd hing lose von seinen knochigen Schultern, der Kragen war viel zu weit für seinen mageren Hals. Er war nur noch ein

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