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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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hochgekrempelt, die sehnigen Arme aufgestützt. Wir nannten sie Bug , weil sie mit ihrem schmalen Kiefer und den hervortretenden Augen an ein Insekt erinnerte.
    Sie war damals nach dem Krieg aus der Schweiz nach Frankreich gekommen. »Was möchtest du gern, Hiero?«, fragte sie mit Schweizer Akzent.
    Ich blickte auf.
    Der Junge wirkte einen Moment lang verwirrt wie ein Schauspieler, der beim falschen Stichwort auf die Bühne gekommen ist. Er starrte sie an, zuckte die Achseln. Dann drehte er den Kopf und sah mich in der Ecke sitzen.
    »Ach, ich hab eigentlich gar keinen Durst«, murmelte er.
    »Geht aufs Haus«, sagte sie. »Wann immer du willst.«
    Scheiße. Wieso waren immer alle Leute so nett zu dem Kerl?
    Hiero sah meine ernste Miene und rührte sich nicht vom Fleck. Ich dachte an das, was Delilah gesagt hatte. Ich dachte, man kann jung und trotzdem erwachsen sein, man muss es nur wollen. Es ist keine Frage des Alters, ob einer ein Junge oder ein Mann ist.
    »Du bist ein Schwindler«, sagte ich leise. »Ein verdammter Schwindler, hörst du?«
    »Sid?«, sagte er.
    Ich spuckte auf die dreckigen Bodendielen.
    Aber dann sah ich sein Gesicht. Ich hätte am liebsten alles zurückgenommen. Er wirkte vollkommen am Boden zerstört. Man sah ihm an, wie etwas in ihm kaputtging. Seine Augen wurden ganz finster.
    »Ach, Hiero, das war doch nur Spaß.« Ich schob mit dem Fuß einen Stuhl unter dem Tisch heraus. »Komm, setz dich her und trink einen mit.«
    Er stand da und schaute mich mit starrer Miene an.
    »Hiero«, rief ich.
    Er drehte sich einfach um und ging raus. Die Tür knallte hinter ihm zu.
    Die Frau hinter der Theke verzog säuerlich den Mund, aber sie sagte nichts.

    Und so begann dieser Traumwinter.
    Ich schlief sogar, wenn ich wach war. Abgestellt in einer Stadt, wo ich kaum jemanden kannte, ausgesperrt von einer fremden Sprache. Die Einsamkeit und die Eifersucht lasteten schwer auf mir. Ich mied Delilah, wo ich nur konnte, ging sehr spät oder sehr früh aus dem Haus, aß in entlegenen Cafés, wo keine Gefahr bestand, Leuten aus der Jazzszene zu begegnen. Den Jungen ignorierte ich vollkommen. Ich bin nicht sicher, ob er es überhaupt bemerkte.
    Die Straßen von Paris wurden weiß wie Schimmel im kalten Schein der Gaslaternen.
    Der Junge und Chip gingen zu sonderbaren Tageszeiten aus, Hiero immer mit Armstrongs alter Trompete unter dem Arm. Ich drehte mich auf die andere Seite und starrte in der Dunkelheit mit stumpfem Blick an die Wand. Ich fragte nicht nach der Schallplattenaufnahme, und sie erzählten nichts. Armstrong wurde wieder krank. Er wurde gesund.
Er verschwand für einige Zeit, um irgendwo im Ausland aufzutreten, dann kam er zurück, und sie arbeiteten weiter. Das Gift in meinen Eingeweiden tobte mit unverminderter Wut.
    Was mich überraschte, war, wie schnell die Zeit verrann. Eine Woche ging vorbei, dann eine zweite, eine dritte. Weihnachten kam und ging ohne Feier. Dann verschwanden die roten Schleifen, in den Schaufenstern der Patisserien waren keine Baumstammkuchen mehr zu sehen, und ich merkte, dass der Januar begann.
    Es war ein verdammt dunkler Winter, erst recht dunkel für jemanden wie mich, der nichts zu tun hatte. Ich verbrachte meine Nachmittage damit, durch Paris zu wandern, die Zehen erstarrt vor Kälte und im Kopf immerzu den hässlich schönen Klang von Hieros Trompete.

    Einmal passierte doch etwas in dieser Traumzeit. Es war Mittag, der Himmel war vollkommen weiß. Ich schlurfte gerade über den Pont de la Concorde, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, als ich spürte, wie ein Schatten auf meinen Weg fiel. Ich blickte auf, und da stand er vor mir: Louis Armstrong. Er trug eine Tüte mit Lebensmitteln, sein Atem bildete weiße Wölkchen vor seinem Mund.
    Ich errötete.
    »Griffiths«, sagte er mit seiner volltönenden knarzenden Stimme, »gehen wir ein Stück zusammen?«
    »Wie geht’s mit der neuen Platte voran?«, fragte ich.
    »Langsam. Sehr langsam. Wir tasten uns im Dunkeln vorwärts.«
    Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte. Wir schritten weiter über den Schnee.
    Armstrong musterte mich von der Seite. »Wie geht’s dir? Delilah macht sich Sorgen um dich.«
    »Hat sie das gesagt?«
    Er nickte.
    »Wir sind nicht mehr zusammen«, sagte ich.
    »Ich weiß.«
    »Sie redet nicht mal mehr mit mir. Wenn ich ins Zimmer komme, geht sie raus. Hat sie das auch erzählt?«
    Armstrong nahm die Tüte mit seinen Einkäufen auf den Arm und legte mir eine Hand auf die

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