Spiels noch einmal
einen Hochleistungsathleten wie Jesse Owens oder Joe Louis und sagten ihm, er sollte sich ja nicht einbilden, seine sportlichen Fähigkeiten würden ihm was nützen; sie würden ihn scharf im Auge behalten, damit er nicht abhaute. Ich sah, wie ein SS -Mann ihn zur Effektenkammer führte und ihm befahl, sich auszuziehen, dann steckte er alle seine Sachen in einen Sack, auf dem seine Häftlingsnummer stand.
Es war kein Traum. Ich sah, wie sie ihm Salpeter verabreichten, bis alle seine Glieder anschwollen. Das sollte seine wilden afrikanischen Triebe in Schach halten. Tag für Tag,
bis sein Gesicht sich so schwammig anfühlte wie aufgeweichtes Brot.
Und ich sah, wie sie ihn kahlschoren, am ganzen Körper. Er stand in einem ungeheizten Raum, ausgeliefert wie ein gefangenes Tier, seine mageren Beine zitterten. Allerdings war es nicht der Junge, den ich sah, sondern der alte Mann, der er geworden war: Auf dem dreckigen Fußboden lagen schneeweiß die Haare seines Barts, und seine traurigen Augen waren milchig, als man ihm die gestreifte Sträflingskleidung mit der flachen Kappe gab. Und ich hörte ihn sagen: »Das ist vorbei. Das war in einem früheren Leben.«
Ich sah ihn schlaflos auf der Pritsche liegen und seine Kameraden anstarren, all die ausgemergelten, verbogenen Körper, die Augen, aus denen alles Leben ausgebrannt worden war. Selbst diese leeren Augen blickten mit überraschtem Staunen auf seine schwarze Haut. Ich sah, dass Hiero kaum Notiz von ihnen nahm. Diese Männer waren wie Rauch, man konnte durch sie hindurchgehen. Er fürchtete sich sogar ein bisschen vor ihnen, als ob sie ihm die Muskeln von den Knochen saugen, ihm das Licht aus den Augen schneiden könnten, wenn er ihnen zu nahe käme.
Und ich sah, wie quälend langsam jeder Tag verging. Er wurde gezwungen, in einem Orchester mitzuspielen. Es gab genügend Instrumente, die Leute mitgebracht hatten, weil sie dachten, dort, wo man sie hinbrachte, würden sie spielen können. Ich hörte ihn Musik aus Wagners Lohengrin spielen, wenn neue Transporte eintrafen. Ich hörte ihn den Kanonensong aus der Dreigroschenoper spielen, während Lastwagen voller Leichen vorbeifuhren und Leute zum Galgen geführt wurden. Ich sah ihn in einem Lagerbordell; das Kreischen der weiblichen Gefangenen, die dort arbeiten mussten,
zerriss die Luft, während er dastand und seine Trompete blies, lauter strahlende und hell schmetternde Töne.
Es war kein Traum. Und dann schlief ich.
Die Sonne ging auf, und dieses überwältigende Licht kam wieder. Ich stand auf in denselben zerknitterten Kleidern, in denen ich geschlafen hatte, ging hinaus, setzte mich auf Hieros Veranda und ließ die Beine über den Rand baumeln.
Ich hatte mir einen Becher Kaffee eingeschenkt. Es war keine Milch da, darum trank ich ihn schwarz. Wir drei, und keine Milch im Haus – das hatten wir doch schon mal, oder? Und da wusste ich plötzlich, dass ich es nicht über mich bringen würde, dem Jungen die Wahrheit zu sagen. Unmöglich.
Chip kam gähnend aus dem Haus. Er wollte einen Morgenspaziergang machen und fragte, ob ich mitkäme, aber meine alten Beine fühlten sich ein bisschen wackelig an. Ich schaute ihm nach, als er allein davontaperte, schwer beladen mit seinen dreiundachtzig Jahren. Es stimmte mich traurig, als ich ihn so sah.
Ich überlegte mir gerade, ob ich wieder reingehen sollte, da fühlte ich jemanden hinter mir. Ich drehte mich um und zuckte zusammen. Da stand Hiero und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
»Guten Morgen«, sagte ich. Ich sah ihn an. Es kam mir immer noch ganz unwirklich vor, dass er am Leben war.
»Morgen, Sid.« Er trug ein viel zu weites T-shirt, zerlumpte Jeans und Tennisschuhe, die aussahen, als hätten sie schon zehn Marathonläufe hinter sich. Er wirkte wie ein Landstreicher. Aber irgendwie strahlte er trotzdem eine besondere Würde aus.
Ich machte Anstalten aufzustehen, um ihm zu helfen.
»Mann, Sid, setz dich hin.« Er lächelte sanft. »Ich wohne hier schon so lang, dass ich rückwärts durchs Haus gehen könnte, ohne auch nur einmal anzustoßen.«
Er tastete nach dem Rand der Veranda und setzte sich dann vorsichtig hin.
»Hast du gut geschlafen?« Er klang ein bisschen erschöpft.
»So la la. Wie es eben so ist in einem fremden Bett.« Ich schaute ihn an, dann fügte ich hinzu: »Aber ich danke dir für alles. Du bist ein prima Gastgeber.«
»Na, zumindest gab es einen richtig guten Scotch.«
Ich grinste. »Ich hab Kaffee gemacht. Es ist noch
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