Spiels noch einmal
Auto entlang und strich mit der Hand über den schimmernden Lack. Dann drehte sich Hiero unvermittelt um, schaute mich direkt an, obwohl ich im Schatten stand. »Sid?«
Seit wir von Berlin weg waren, hatte sich irgendwas zwischen mir und dem Jungen verändert. Ich verstand es nicht, aber es war jetzt, als behielte er mich dauernd im Auge, als wachte er über mich. Er benahm sich wie ein Bruder und fletschte sofort die Zähne, wenn Ernst oder Chip mir irgendwie zu nahe traten. So als ob es nie irgendwelche Rivalitäten wegen Delilah zwischen uns gegeben hätte. Aber irgendetwas stimmte mit mir nicht – ich fühlte einfach nichts.
Als ich ins weiße Sonnenlicht hinaustrat, sah ich, dass sich unter einem Vordach etwas bewegte. Ernsts Schwester fuhr in ihrem Rollstuhl zu Chip.
»Ein schönes Auto, nicht?«, rief sie.
Er zuckte die Achseln und sagte etwas, das ich nicht verstand.
»Ein Horch 853 Sportcabriolet.« Sie lachte. »Ja, die Modelle von 1938 waren hübsch.«
Chip sah sie verdutzt an.
»Ich kenne mich aus mit Autos, Mr Jones«, sagte sie.
Er glotzte, als hätte er noch nie so ein Geschöpf gesehen. Dann lachte er. »Ah, nennen Sie mich doch einfach Chip.«
»Chip, ja, gut. Und Sie nennen mich Buggy. Liesl klingt, als läge ich schon im Koma.«
Ich setzte mich. Der Junge sah mich nachdenklich an.
Liesl lachte immer noch. Offenbar war sie der Typ Mädchen, der es nicht ertragen kann, wenn Pausen im Gespräch entstehen. Sie wirkte so feingliedrig, so zerbrechlich. Ihre Schönheit hatte etwas Besonderes – wie wenn eine Jahreszeit zu Ende geht, man weiß, dass es nicht dauern kann. »Ja, genau deswegen«, sagte sie und schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne ihres Rollstuhls. »Wenn man nicht darüber lachen kann, dann ist es wirklich ein trauriges Schicksal.«
»Trauriges Schicksal«, murmelte der Junge finster. »Dieser Rollstuhl hat mehr gekostet, als ein normaler Mensch in einem Jahr verdient.«
»Immerhin«, sagte ich in sanft tadelndem Ton, »sind ihre Beine gelähmt.«
Hiero runzelte die Stirn. »Ernst hat nicht einfach nur so dahergeredet. Sicher, sie wirkt ganz nett, aber Ernst kennt seine Familie. Das Mädchen ist gefährlich.«
Seine Stimme klang böse. Ich schaute auf. Er beobachtete Liesl in ihrem Rollstuhl. Sie fuhr mit den Fingern über Chips struppigen Afro. »Hamburg hat mir nie gefallen«, sagte Hiero bitter. »Meine Mutter ist manchmal hierhergefahren. Ich glaube, weil die Stadt sie an meinen Vater erinnert hat. Ich fand es immer scheußlich. Meine Mutter ist aus Köln.«
Ich horchte auf. »Aus Köln? Du meinst, sie ist dort geboren?«
»Was sonst könnte ich damit meinen?«
»Du bist also ein Mischling ?«
»Klar. Sieht man das nicht?«
»Du schaust wohl nie in den Spiegel, oder?«
Er blickte auf seinen glatten Handrücken. »Schwarz wie die finstere Nacht.«
»Es ist nichts Schlimmes dran, wenn man schwarz ist, Mann.«
»Mein Vater ist aus Kamerun.«
»Aus Kamerun, echt?«
Der Junge lächelte schüchtern. »Er war ein Prinz dort. Kaiser Wilhelm II . hat ihn eingeladen, nach Deutschland zu kommen, hier zur Schule zu gehen und Medizin zu studieren. Er fuhr mit einem Schiff der Wöhrmann-Linie 1899 nach Hamburg. In den Semesterferien hat er dann meine Mutter kennengelernt, im April. Sie war damals Lernschwester in einem Krankenhaus. Als er mit seinem Studium fertig war, zog er nach Köln und heiratete sie.«
»Klingt, als hättest du dir die Details wirklich gut gemerkt«, sagte ich. Und ich dachte: Scheiße, du erzählst die Geschichte so, als wolltest du nicht, dass jemand sie glaubt. »Ein Prinz! Blödsinn.«
Er grinste. »Echt. Kaum zu glauben, nicht?«
»Das kann man wohl sagen.«
Chip ging hinüber zu dem Horch, nahm Ernsts Klarinette vom Rücksitz und brachte sie Liesl, die in ihrem Rollstuhl in der Sonne saß. Er zeigte ihr, wie man sie hielt, dann nahm er das Instrument, lächelte, führte es an seine Lippen und blies ein schrilles hohes C. Er wischte das Blatt ab und gab ihr die Klarinette zurück.
Hiero drehte sich nach mir um, zog genervt die Augen
brauen hoch. »Weißt du, an was ich denke, wenn ich sie so sehe?«
»An was?«
Er musterte mich mit seinen kleinen dunklen Augen. »Ich zeig’s dir«, sagte er tonlos. »Aber wir müssen hinfahren.«
Ich strich mir mit der Hand über die Augen. Das Sonnenlicht war mir zu hell, und ich war müde. Wieder fühlte ich diese Schwere in mir. »Das ist gefährlich, Junge.«
»Keine Angst.« Er sah mich an,
Weitere Kostenlose Bücher