Spiels noch einmal
drückte gegen das gepolsterte Dach. Der Junge legte mir die Hand auf die Schulter und murmelte eine Entschuldigung. Ich machte schweigend die Augen wieder zu.
Ich erinnere mich an einen Morgenhimmel, blond wie Asche, und an einen warmen Wind, der nach Kohle und Birkenlaub roch. Chip öffnete sein Fenster, und als ich den ganzen Staub roch, dachte ich, ich würde gleich in Tränen aus
brechen. Ich drückte die Augen zu so fest es ging und vergrub mein Gesicht in meinem Jackett. Ich dachte, irgendwas hätten wir doch tun müssen. Wir hätten sie nicht im Stich lassen und einfach nach Hamburg abhauen dürfen.
Wie durch einen Nebelschleier hörte ich Chip und Ernst vorne streiten. Die Fahrt ging immer weiter, endlos. Ich weiß noch, dass Chip die schmutzige Binde um seinen Kopf abwickelte, den Verbandsmull von seiner verschorften Wunde abzupfte, alles zusammenknüllte und aus dem Fenster warf. Wir näherten uns Hamburg. Und dann fuhr das Auto plötzlich an den Straßenrand und kam mit einem Ruck zum Stehen. Ich schaute wie im Fieber auf und sah Ernst auf dem Seitenstreifen mit zwei bewaffneten Uniformierten reden.
»Es ist gut, es ist gut«, flüsterte Hiero beruhigend. Er drückte meinen Arm. »Reg dich nicht auf, Sid, uns passiert schon nichts. Ernst hat alles unter Kontrolle.«
Einer der Uniformierten beugte sich herunter und starrte mit rotem Gesicht zu uns herein. Ernst herrschte ihn an, er solle vom Auto weggehen, so als würde der Mann es schmutzig machen. Sie redeten weiter, und dann spritzten Staub und Split auf, und die beiden Männer fuhren davon. Ernst ließ sich in den Fahrersitz sinken, seine feingliedrigen Hände am Lenkrad. Er lächelte grimmig und fuhr schweigend los.
Ich schlief wieder ein.
Ich wachte erschöpft auf. Gedanken an Delilah und Paul stiegen in mir hoch; ich versuchte sie zurückzudrängen. Schatten huschten über die Fenster.
»Sid«, sagte der Junge ruhig. »Wie geht’s dir?«
Ich setzte mich auf und schaute zu ihm hinüber. Der Wa
gen holperte über Schlaglöcher, meine Füße auf dem Boden hüpften. Die Beine des Jungen hingen über meinen Bass.
»Hiero«, sagte ich, dann musste ich husten.
»Hast du Durst?« Der Junge zog eine Feldflasche mit Wasser unter dem Sitz hervor und hielt sie mir hin.
Draußen säumte ein sanftes grünes Licht, das durch das Laub der Bäume sickerte, die Straßen der Stadt. Wir fuhren an Toreinfahrten zwischen hohen Pfeilern vorbei, hinter Ziegelmauern ragten die geschwungenen oder spitzgiebeligen Dächer herrschaftlicher Villen auf. Vornehm gekleidete Damen spazierten auf den Gehwegen, Dienstboten führten Hunde an Leinen aus.
Ernst wirkte unangenehm berührt. Er fuhr sehr langsam. Keiner redete.
Chip ausgenommen natürlich.
»Scheiße, Haselberg.« Er grinste. »Hier bist du aufgewachsen. Inmitten von Dienern und Gärtnern und Kindermädchen, die dir den Arsch abgewischt haben?«
»Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen«, sagte Ernst.
Chip lachte. »Na ja, das Schicksal wollte eben, dass sich so ein großer Klarinettist die Hände nicht schmutzig machen muss.«
Durch das offene Fenster konnte ich das Meer riechen. Ernst bog auf eine Straße ab, die sich zwischen blassen Linden durchschlängelte. Hinter den Bäumen sah ich weite Rasenflächen. Und dann kapierte ich plötzlich: Scheiße, das war gar keine öffentliche Straße, sondern eine Einfahrt .
Ernst parkte den Wagen auf rosa Kies. »Wir sind da.« Mit etwas säuerlicher Miene stieg er aus und ließ die Tür weit offenstehen.
Mann, das haute mich wirklich um. Ein riesiges weißes Gebäude aus Stein mit einem Säulenportal und zwei Freitreppen, die zu einer Terrasse mit einer steinernen Balustrade hinaufführten. Links und rechts erstreckten sich endlos lange Seitenflügel mit unzähligen Fenstern. Jenseits des Rasens sah ich einige Gestalten: Zwei Männer, offenbar Gärtner, machten sich in den Blumenbeeten zu schaffen, eine Frau trug einen Eimer zu ihnen hin. Das ganze Ensemble wirkte nicht wie ein Privathaus, in dem jemand wohnte, sondern eher wie irgendeine Art Institution .
»Hier bist du aufgewachsen, Mann?«, murmelte Chip. »Das ist ja ein Ding! Dein Vater trägt nicht zufällig tagsüber meistens einen weißen Kittel?«
Ernst legte eine Hand auf die warme Motorhaube des Horch, während wir auf den Trittbrettern standen und ehrfürchtig die Anlage anstarrten. »Meine Familie – na ja, das bin nicht ich , das ist euch hoffentlich klar.«
Hiero nickte. »Das wissen
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