Spiels noch einmal
Wetter zu schützen, als vielmehr darin, sein Gesicht zu verbergen. Und sie verbarg die Welt vor ihm, wenn er keine Lust hatte,
sie zu sehen. Seinen Kleidern nach zu urteilen konnte er irgendein beliebiger ordinärer Straßenjunge sein. Was einem aber auffiel, war die Art, wie er sich darin bewegte. Er stolzierte nicht – dafür war er zu schüchtern –, doch seine Bewegungen hatten einen besonderen Rhythmus, der einem ins Auge sprang. So als hinkte er.
Paul redete sich den Mund fusslig, was für ein Genie er war, ein seltenes Talent, ein Virtuose. Ich schaute immer nur auf diese knochigen Handgelenke.
Aber als er seine Trompete hob, schwiegen wir alle respektvoll. Sein Instrument sah so richtig billig aus, verbeult und so unansehnlich wie ein Stück in Silberpapier eingewickelte Schokolade, das jemand zu lange in der Tasche mit sich herumgetragen hat. Er legte seine schmächtigen Finger auf die Ventilknöpfe, hob den Kopf und schloß das linke Auge bis auf einen ganz schmalen Schlitz.
»Buttermouth Blues«, rief Ernst ihm zu.
Der Junge nickte. Er fing an, aber offenbar blies er nur ein bisschen leere Luft durch sein Blech. Wir alle standen herum mit unseren Instrumenten und warteten. Nichts passierte. Ich warf Chip einen Blick zu, schüttelte den Kopf. Aber dann hörte ich es plötzlich – es war so subtil wie ein Nadelstich in der Luft: die Stimme eines Kolibris, der in einer Tonlage und in einem Tempo an der Grenze des Hörbaren singt. So was war mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Der Junge packte es total schräg an, die Töne glitzerten wie Kristalle. Dann hielt er kurz inne, holte tief Luft und schmetterte eine trommelfellzerreißende Interpretation der fast unhörbaren Phrase, die er vorher gespielt hatte.
Als er damit fertig war, setzten wir mit unseren Instrumenten ein. Und es dauerte bloß eine Minute, bis ich kapiert hat
te, was für eine Art von Musiker dieser Junge war. Er klang melancholisch, verzögert, er hielt die Töne verrückt lange. Diese Musik sollte eigentlich hart, hell, klar klingen wie ein Schiffshornsignal, das übers Wasser schallt. Der Junge machte die Töne trübe, schickte sie nicht nur übers Meer, sondern auch durch Erde. Es war ein satter Klang, was bei einem älteren Spieler in Ordnung gewesen wäre, aber bei diesem Jungen klang es irgendwie, als wäre es nachgemacht. Das Zusammenspiel zwischen ihm und uns hatte was von einem Dialog zwischen Prediger und Chor. Aber es fehlte die Leichtigkeit. Seine Stimme war die eines Predigers, der zu jung ist, um seine ländliche Gemeinde zu überzeugen. Als ob er uns anflehte, ihm zuzuhören. Er jammerte. Er stöhnte. Er bettelte, er schäumte. Er holte alle nur denkbaren Gefühle aus seiner Trompete raus. Diese Art zu spielen hatte was Nacktes, Rührendes. Als würde er sein Inneres nach außen kehren, als lägen alle zappelnden Nerven offen da. Er verbog die Töne, verschmierte sie in einer Weise, die uns provozierte, gegen ihn anzuspielen. Und je heftiger wir ihm widersprachen, desto dringender wurde sein Bitten und Werben. Aber es war kein Bitten um irgendetwas, sondern es schien einfach um seiner selbst willen dazusein. Irgendwie klang er zugleich alt und so, als hätte er vorher noch nie eine Trompete in der Hand gehabt.
Ich fand es scheußlich . Es fühlte sich so verdammt unecht an, so angeberisch. Ich hielt das Gesicht gesenkt, im Schatten, als wir zu einem langsamen Ende kamen und die Musik auseinanderfiel.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Ernst nasse Augen hatte. Er weinte .
Paul beugte sich vor und legte dem Jungen ganz lose die Ar
me um die Schultern. »Was hab ich euch gesagt, Jungs? Die Stimme Gottes .«
Daran dachte ich jetzt, als ich mit dem Jungen auf der Pier saß. Aber plötzlich spielte es überhaupt keine Rolle mehr, dass er meiner Meinung nach nicht so gut war, wie alle behaupteten. So wie er da saß und auf das eintönig graue Wasser hinausstarrte, wirkte er so verdammt klein, so verletzlich. Wie etwas, das der Wind angeweht hat. Und ich wusste, dass es das war, was Delilah gesehen hatte.
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, spürte, wie sich seine spitzen Knochen unter dem Hemd bewegten.
Er lächelte schüchtern. »Es wird alles gut, Sid«, sagte er und schaute verlegen weg.
Ein paar Tage später ging ich eben auf dem rosa Kiesweg vom Garten ins Haus, als ich Ernst auf mich zu kommen sah.
»Sid.« Sein Leinenanzug war am Ellbogen zerknittert. Er strich sich übers Haar und warf
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