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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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wässrigen Tageslicht, der Kopf wirkte übergroß. Ein Tuch war darum gewickelt – und da war mir plötzlich, als stürzte mein Herz in ein tiefes Loch in meiner Brust. Die Frau dort unten blieb am Fuß der Treppe stehen, verschränkte die Arme. Sie sah dünner aus, matter, fast durchsichtig, aber, mein Gott, sie war es.
    Es war Delilah.
    Ich fing an zu zittern. Es fühlte sich ganz fein und schnell an wie das Herz eines Vogels, den man in den Händen hält.
    Chip trat neben mich. »Ich hab dir doch gesagt, dass das ein aufregender Tag wird«, murmelte er. »Willst du hier Wurzeln schlagen? Vielleicht wär’s besser, du würdest zu ihr runtergehen und ihr was Nettes sagen.«
    Ich konnte es nicht glauben. Ich sah ihn hilflos an, spürte die kalte Luft in meinem Nacken. Delilah schaute hinüber zu einem Café. Sie wirkte mit dem großen blauen Turban wie ein Wesen aus einem fernen Land, eine Fata Morgana, ganz bestimmt. Und da stieg plötzlich diese große Welle von Gemeinheit in mir hoch.
    Langsam, Sid, dachte ich. Du weißt noch überhaupt nichts. Einfach abwarten.
    Aber Chip war schon auf dem Weg die Treppe hinunter. »Ah, schaut mal, wer da von den Toten auferstanden ist«, rief er. »Lilah, was glotzt du so angestrengt? Hast du vergessen, wie wir aussehen?«
    Sie drehte sich um, und ich sah ihr Gesicht ganz deutlich. Es war, als hätte mein Herz aufgehört zu schlagen. Ich war wie erstarrt. Ich stand da oben am Geländer und konnte mich nicht bewegen.
    »Charles«, schrie sie mit einem schrillen Lachen. »Charlie Jones!«
    »Ich heiße Chip, wie du weißt.« Er lächelte.
    Sie hob ihren Rocksaum und rannte die Stufen hinauf, dass die Bleistiftabsätze auf den gesprungenen Steinen nur so ratterten. Sie war bei ihm, bevor er auch nur ein halbes Dutzend Stufen hinuntergestiegen war, und fiel ihm stürmisch um den Hals. Ich wette, dass nicht mal seine eigene Mutter Chip je so fest umarmt hat. Dann hob sie den Blick und sah über Chips Schulter mich an.
    Und ich Blödmann sagte nichts, ich brachte einfach kein Wort heraus.
    Sie ließ Chip los und stand schwer atmend da.
    »Delilah?« Ich merkte, wie sich meine Finger an das kalte Geländer klammerten.
    Sie sah mich schüchtern an. »Hi, Sid.«
    Keiner von uns machte einen Schritt auf den anderen zu, wir rührten uns nicht. Und dann ertönte ein hell jauchzender Schrei, und hinter mir explodierte eine Wolke von Tauben. Ich zuckte zusammen. Lilah wandte ihr schönes Gesicht von mir ab und den Tauben zu, sah den Jungen oben an der Treppe und rannte los. Sie umarmte ihn und drückte ihn mit solch wilder Leidenschaft an sich wie nie zuvor ein geliebtes Wesen.

    Wir hielten uns dann nicht mehr lange dort auf. Delilah führte uns in die alte Kirche, an den Bänken entlang und durch eine Hintertür in einen kleinen mit Gras bewachsenen Hof. Außer uns war kein Mensch da. Hinter einer Hecke gab es einen Zaun mit spitzen Eisenstäben, unter einem Apfelbaum stand eine Bank, dazu ein Tisch mit drei altersschwachen Stühlen. Sie führte uns zu einem Türchen und öffnete es. Dahinter ging es über eine steile Treppe nach unten.
    »Kommt«, sagte sie. »Es ist nicht weit.«
    »Gehen wir zu Louis?«, fragte Hiero auf Deutsch.
    Ich war in Gedanken und antwortete nicht. Ich fühlte mich kraftlos und flau, mir war nicht wohl in meiner Haut, und das lag nicht daran, dass ich nervös gewesen wäre. Immer wieder warf ich verstohlene Blicke in ihre Richtung. Delilah. Ich konnte es kaum glauben. Ich sah sie diese Stufen hinabgehen mit ihren Vogelknochen, eingehüllt in diesen besonderen Geruch nach frischer Luft und Eichenholz, als käme sie gerade von einem Spaziergang durch die freie Natur, als wäre heute ein x-beliebiger Tag und nicht einer, an dem sich ein Wunder ereignet hatte. Alles kam wieder hoch in mir. Ich erhaschte einen Blick auf ihre sehnigen Fußknöchel unter dem Rock, nur einen Moment lang, dann waren sie wieder weg.
    Es war nur eine Woche her, und doch kam sie mir vollkommen fremd vor. Die Aufregung der letzten Tage, die Trauer – es war, als wären zwanzig Jahre vergangen.
    »Was ist passiert?«, fragte sie. »Ich will alles wissen.« Ihre schlanke Hand fasste an ihren Nacken, um zu prüfen, ob das Tuch um ihren Kopf richtig saß.
    Chips Finger strichen an dem Eisengeländer entlang. »Wir haben dich für tot gehalten. Wie kommt es, dass du noch am Leben bist?«
    Sie lächelte. »Vorsicht, Charlie. Du machst dir die Hände schmutzig.«
    »Hör endlich auf, mich Charlie

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