Spiels noch einmal
Dann empfängt er uns im Bett oder wie?«
»Ja«, sagte sie. »Ich denke, es ist gar nicht so schlecht. In Louis’ Zimmer ist Hiero weniger gefährdet.«
»Wieso? Weniger als wo?«
Sie sah Chip so befremdet an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Als in einem Café zum Beispiel. Macht ihr euch keine Sorgen um ihn?«
Wir verstanden nicht, wovon sie redete.
»Hiero?«, sagte Chip. »Haben die Franzosen denn auch was gegen Schwarze?«
»Nicht gegen Schwarze«, sagte sie. »Gegen Deutsche.«
Aber dann stutzte sie und starrte uns ungläubig an. »Habt ihr es wirklich nicht mitgekriegt? Ihr wisst es noch gar nicht?«
Die Tür des Aufzugs öffnete sich, das Scherengitter wurde zurückgeschoben. Ich bemerkte es kaum. Ich blickte gespannt auf Delilahs Lippen.
»Es ist Krieg«, sagte sie. »Wir haben Deutschland den Krieg erklärt. Gestern Nachmittag.«
Es wollte mir nicht in den Kopf. Gestern Nachmittag waren wir durch die französische Landschaft gefahren, vorbei an niedrigen Scheunen, scheckigen Kühen, Leuten auf Fahrrädern mit Körben voller Lebensmittel. Es war eine ländliche Idylle gewesen, der Himmel auf Erden. Wir waren halb blind vor Erleichterung, unsere Schuld, die wir mitbrachten, war unsichtbar wie Gepäck, das unter den Sitzen verstaut ist. Wir dachten nur daran, dass wir entkommen waren. Den dunklen Zügen, die nachts durchs Land fuhren. Den Zeitungen, in denen lauter Lügen standen, den böse bellenden
Rundfunkreden. Den Schatten von Berlin. Aber obwohl der ganze Irrsinn hinter uns lag, hatten wir uns nicht sicherer gefühlt. Vielleicht hatten wir da schon geahnt, was kommen würde.
Wir stiegen aus dem Aufzug aus. Delilah nahm Chip beiseite und winkte uns weiter.
»Was habt ihr beide vor?«, fragte ich.
»Geht ihr nur mal«, sagte Delilah. »Lou wartet auf euch.«
Aber ich hatte ganz weiche Knie. Mann, das war Louis Armstrong . Mein Blick fiel auf eine spiegelblanke Messingleiste, und mir blieb fast das Herz stehen: Das Gesicht, das mich da anglotzte, war länglich verzerrt vor Angst.
Die Tür von Nr. 301 stand einen Spalt weit offen. Hiero blieb abrupt stehen und starrte wie versteinert. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg.
»Sid«, flüsterte Hiero.
Ich sah ihn an.
»Du musst mir einen Gefallen tun, bevor wir da reingehen.«
»Was?«
»Aber du darfst nicht lachen.«
»Mir ist nicht nach Lachen zumute. Also was willst du?«
»Sei so nett und kneif mich.«
Ich dachte, ich höre nicht richtig, aber er krempelte schon seinen Ärmel hoch. Ich schaute auf seinen schweißnassen Unterarm. Er glänzte wie ein Stück Schweinebraten.
»Du spinnst ja total.«
»Mach schon«, flüsterte er. »Nur, damit ich weiß, dass das wirklich ist.«
»Aha. Wieso brauchst du da mich dazu?«
Aber er schaute mich nur stumm und vollkommen ver
ängstigt an. Ich warf einen Blick auf die Tür und dann zurück auf den Gang, wo Chip gerade in Sicht kam. Scheiße.
Ich zwickte ihn.
Er zuckte zusammen.
»So.« Ich seufzte. »Träumst du immer noch? Oder können wir jetzt endlich reingehen?«
Er rieb sich grinsend die schmerzende Stelle an seinem Arm. »Mann, dieser Traum fühlt sich verdammt echt an.«
»Das sind die besten«, sagte Chip. Er legte dem Jungen seine große Pranke auf die Schulter und beäugte die offene Tür. »Besonders, wenn auch noch hübsche Frauen drin vorkommen.«
»Aber wenn dir das passieren würde, dann wüsstest du doch sofort, dass das nicht echt sein kann«, sagte ich.
»Haha, sehr witzig.«
»Vielleicht träumst du eher von Kerlen«, meinte der Junge.
»Ihr zwei könntet als Double von Laurel und Hardy auftreten. Wollt ihr die Nummer Louis vorspielen?«
»Dreihunderteins«, rief Delilah und kam durch den Korridor auf uns zu. »Ah, ihr habt es gefunden. Also dann, geht rein, nicht so schüchtern.«
Wir rührten uns nicht.
»Ich hoffe, wir stören nicht. Könnte ja sein, dass die französische Krankenschwester gerade da ist.« Chip grinste nervös.
Aus dem Zimmer war ein trockenes Husten zu hören. »Wer ist da? Wer ist da draußen?«
Mann, diese Stimme – sie klang wie knirschender Kies.
Delilah schüttelte den Kopf. »Er neigt dazu, seine Krankheit ein bisschen zu übertreiben. Das müsst ihr nicht so ernst nehmen.« Sie rief durch die Tür: »Du weißt doch genau, wer
es ist. Sei froh, dass es nicht deine Frau ist: Wenn du für sie und für deine Ärzte zahlen müsstest, wärst du bankrott.«
Delilah drängelte sich an uns vorbei und stieß mit
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