Spieltage
und ließ sich dann weiterpflegen.
Der sensationelle Aufstieg des jungen Clubs wurde von den Fans, Sportredakteuren und den Aufsteigern selbst als Triumph über die alten, satten und egoistischen Profis empfunden. Das passte in den Zeitgeist, denn seit dem halbstarken Auftritt der deutschen Nationalelf bei der Weltmeisterschaft 1982 wurde die Entfremdung des Publikums von den angeblich nur noch um sich selbst kreisenden Bundesligafußballern beklagt. »Gagen runter, Arroganz weg!«, stand auf einem Plakat, das die deutschen Fans den Nationalspielern bei der Weltmeisterschaft 1982 im Trainingslager in Gijón entgegenhielten. Es war die erste Generation, die Direktorengehälter mit 23 erwarten durfte, die nicht mehr in Sportschulen, sondern in Hotels logierte. Die Nationalspieler bewarfen die Fans in Gijón vom Hotelfenster aus mit Wasserbeuteln.
Die Rebellion von Nürnberg aber war nicht das Werk von unverschämten, selbstherrlichen Profis, wie es in der klischeehaften Legende heißt. Die vier gefeuerten Briefschreiber waren außergewöhnlich engagierte Profis, und es wurden aus ihnen allesamt interessierte Menschen mit besonderer Vita. Stefan Lottermann half die Gewerkschaft für deutsche Profifußballer VdV ins Leben zu rufen. Udo Horsmann besuchte mit Ende 40 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Vorlesungen in Theologie, Philosophie, Germanistik und entdeckte seine wahre Leidenschaft dann im Holz. Er wurde Schreiner. Horst Weyerich arbeitet im zweiten Leben als Behindertenbetreuer in Fürth. Rudi Kargus führt an einem dieser norddeutschen Wintertage, an denen es nicht regnet, man aber von der hohen Luftfeuchtigkeit nass wird, in eine Scheune im Hamburger Norden. Die Heizstrahler laufen, und es bleibt kalt. Hier arbeitet er. Er wurde Kunstmaler.
Auf den expressionistischen Ölgemälden in seinem Atelier wenden sich die Menschen, hinter Kapuzen oder Kopftüchern versteckt, vom Betrachter ab. Als seien sie auf der Flucht, als müssten sie ihren Platz abseits der öffentlichen Blicke finden.
Rudi Kargus hat, als seine Torwartzeit mit 38 vorüber war, erst einmal sechs Wochen im Dachgeschoss an einer Modelleisenbahn gebastelt. Er brauchte einige Jahre, um sich dem Gedanken zu stellen, dass es weitergehen sollte, dass etwas Neues beginnen könnte. Er wurde neugierig auf die Welt, die er als Profi ausgeschlossen hatte. Er begann zu lesen, die Klassiker, Dostojewski, die neuen Meister, Coetzee, die hispanischen Autoren faszinierten ihn, der magische Realismus von García Márquez, die hüpfende Phantasie von Chirbes, bald füllten die Bücher drei Wände in seinem Wohnzimmer. Er versuchte herauszufinden, ob er malen konnte, und traf an der Kunstschule Blankenese den Dozenten Jens Hasenberg. So einen wie ihn habe er ja noch nie gesehen, sagte Hasenberg. So einen dressierten Menschen.
Jede Kritik, jeden Verbesserungsvorschlag von ihm nehme Kargus sofort wie ein Gesetz, einen Befehl hin, ohne sich dagegen zu wehren, ohne sein Werk zu verteidigen. Hasenberg sagte es liebevoll, aber doch deutlich genug, damit Rudi Kargus durch seinen Mentor nicht nur die Kunst kennenlernte, sondern im Rückblick auch sich, den Torwart. Er war in den Siebzigern und frühen Achtzigern als Bundesligaprofi dazu erzogen worden, alles für den Erfolg zu tun, ohne etwas zu hinterfragen. »Wenn mir jemand gesagt hätte, nimm die zwei Pillen, dann kassierst du zwei Tore weniger, hätte ich das gemacht.«
Aus dieser Haltung heraus – aus dem Streben, alles für den Erfolg zu tun – rebellierten sie gegen Heinz Höher, nicht aus Trotz, Machtsucht oder Zerstörungstrieb. Eine Szene kommt Rudi Kargus in den Sinn: Heinz Höher bat die Mannschaft vor dem Training durch seine bloße Anwesenheit in der Mitte der Kabine um Ruhe.
Was ist der Unterschied zwischen einem Stürmer und einem offensiven Mittelfeldspieler, fragte der Trainer.
Sekunden verstrichen, keiner wollte etwas sagen, keiner wollte – das Schlimmste in einem Bundesligateam – als Streber gelten. Und ehrlich gesagt, es wusste auch keiner, welche Antwort Heinz Höher erwartete. Der Unterschied zwischen einem Stürmer und einem offensiven Mittelfeldspieler?
Es gibt keinen Unterschied, sagte schließlich einer der Spieler.
Heinz Höher sah ihn regungslos an und sagte: Gehen wir trainieren.
»Heute finde ich die Szene großartig«, sagt Kargus, »wie aus einem Theaterstück. Heute, nachdem ich zig Romane gelesen habe, weiß ich: Ein großer Schriftsteller deutet seine
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