Spieltage
Spielberichte neuerdings mit der kurzen Aussage eines Fußballers oder Trainers, am besten noch auf dem Spielfeld, mit schweißnassen Haaren.
»Thomas Wolter!«, rief Kommentator Rolf Töpperwien nach Werder Bremens 2:0 gegen den Hamburger SV und rückte mit dem Mikrofon so nah an den Bremer Mittelfeldspieler heran, dass seine Nasenspitze und sein Haarschopf neben Wolters Gesicht im Bild zu sehen waren. »Ihr erstes Bundesligator und dann in so einem Spiel – was ist das für ein Gefühl?«
»Kann man nicht beschreiben, kann man wirklich nicht beschreiben.«
Im Studio saß Heinz Höher im türkisfarbenen Poloshirt schon auf einem weißen Bürostuhl neben Moderator Senne. »Tja«, sagte Senne. »Wenn Rolf Töpperwien der Reporter ist, sehen die Spiele immer sehr lustig aus. Heinz Höher, ist es wirklich so lustig, geht es wirklich so locker bei Ihnen zu?«
An Rolf Töpperwien entzündeten sich innerhalb und außerhalb der ZDF-Sportredaktion die Diskussionen: Musste ein Reporter die Begeisterung des Spiels mit solch heißem Atem vermitteln? Oder zeichnete sich ein Reporter, ein Journalist, nicht eher durch seine von Emotionen ungetrübte Urteilsfähigkeit aus? Die große Frage der deutschen Kultur- und Medienschaffenden der Achtziger nach dem U und dem E hatte auch das Sportstudio erreicht. U stand für Unterhaltung, E für ernsthaft. In den angelsächsischen Ländern galt es als selbstverständlich, dass Sportberichte genauso wie Romane oder Theaterstücke ernsthaft und unterhaltend sein mussten, und genau diese Symbiose war eigentlich die Grundidee des Sportstudios gewesen. Doch in Deutschland, wo die Literaturkritik mit preußischer Hartnäckigkeit zwischen U- und E-Romanen unterschied, wurde das Aktuelle Sportstudio misstrauisch beäugt, ob es nicht zu unterhaltend wurde. Unterhaltend bedeutete: seicht und unkritisch. Gleichzeitig galt es als logisches Zeichen der Zeit, dass nun auch im Sportstudio dann und wann eine Musikband auftrat. Im Stadion landeten doch auch Fallschirmspringer.
»Noch eine Frage zur Nationalelf, die in den letzten drei Freundschaftsspielen richtig alt aussah, aber immer, wenn es darauf ankam, glänzend spielte«, sagte Karl Senne und fuhr mit der Hand auf Heinz Höher zu: »Wie erklären Sie diese Diskrepanz?«
Heinz Höher war kurz zuvor im weißen Bürostuhl nach hinten gewippt und verharrte in dieser Haltung, schräg in der Luft.
»Wenn man in den Freundschaftsspielen dreimal verliert, ist nichts passiert, von daher werden wir da auch in Zukunft keine ansehnlicheren Spiele erleben. Was mich dagegen gestört hat, ist, dass Franz Beckenbauer wegen seines Überangebots an guten Stürmern Angreifer wie Littbarski ins Mittelfeld zurückgezogen hat. Aus deren Fehlern in der Defensivarbeit resultieren dann die Gegentore.«
Keine Zeitung griff Heinz Höhers Kritik am Teamchef der Nationalelf auf, wieso auch sollte man daraus eine große Geschichte machen, es war doch nur die private, sachliche Meinung eines Fachmanns.
»Dann müssen wir uns wohl leider damit abfinden, dass Freundschaftsspiele heutzutage nicht mehr den Wert wie früher haben«, sagte Karl Senne, bat Heinz Höher an die Torwand und wollte noch etwas wissen. »Vor zehn Jahren, als Sie das letzte Mal bei uns waren, hat Carmen Thomas Ihnen ein schönes Kind gewünscht. Was ist aus dem Kind geworden?«
»Das schöne Kind spielt jetzt auch Fußball beim 1. FC Nürnberg, in der D-Jugend. Wir wollten es damals Thomas Carmen nennen. Das ging leider nicht. Carmen als Zweitname ist für Jungen nicht zulässig.«
»Wie alt ist der Junge jetzt?«
»Zehn.«
»Vor zehn Jahren waren Sie bei Carmen Thomas hier, dann ist der Junge jetzt natürlich zehn.« Karl Senne schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief: »Logo!« Die Zuschauer lachten, zufrieden mit einem Moderator, der das große E mit einem kleinen u verband.
Vom zweiten Tabellenplatz ging es für den 1. FC Nürnberg geradlinig abwärts. Nach fünfzehn Spielen war der Club Vorletzter. Sie hatten auf den guten Start 1:19 Punkte folgen lassen. So schnell war es Winter geworden.
Fliegt der Höher, wenn er heute verliert?, fragten die Sportredakteure aus anderen Städten die Nürnberger Journalisten seit Wochen vor jedem Spiel. Nein, der sitzt sicher, hatten die Nürnberger zur Verblüffung ihrer auswärtigen Kollegen stets geantwortet. Dem üblichen Reflex, bei Misserfolg den Trainer zu entlassen, widerstand Präsident Schmelzer bewusst. Als nach 1:19 Punkten
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