Spieltage
drahtigen Körper, rannte in der letzten Spielminute der Saison 1984/85 auf das Tor von Hessen Kassel zu. Die Erwartung ließ 57000 Zuschauer im abgewrackten, 1928 erbauten Städtischen Stadion schreien und Heinz Höher gefrieren. Wenn Brunner den Ball ins Tor schoss, würde der 1. FC Nürnberg am Ende einer Saison, die mit der Rebellion begann, in die Erste Bundesliga aufsteigen. Heinz Höher stand am Spielfeldrand zwischen ausgewechselten Spielern, die zu aufgeregt waren, sich den Trainingsanzug überzustreifen, und Zuschauern, die über den Zaun geklettert waren und die niemand zurückwies. Die Zeit geriet aus dem Takt. Für viele Zuschauer liefen die Sekunden vor lauter Aufregung schneller; für Trainer wie Heinz Höher tickten die Sekunden in solchen Momenten langsamer. Die Anspannung ließ ihn auf einer anderen, höheren Ebene sehen, in gestochener Schärfe erkannte er die einzelnen Bewegungen Brunners und sah gleichzeitig voraus, was passieren musste. Der Fahrtwind seines Sprints legte Brunners Geheimratsecken frei, Kassels Torwart Hans Wulf stellte sich ihm entgegen, als Thomas Brunner, auf der Linie des Sechzehnmeterraums, den Ball am rechten Fuß, abbremste.
Von den elf, die für den Club gegen Hessen Kassel aufliefen, hatten neun ein Jahr zuvor noch im Amateur- und Jugendfußball gespielt oder auf Ersatzbänken gesessen. Aber ihre Unerfahrenheit schien in den Frühlingsmonaten 1985 nur zu bedeuten: Sie hatten noch keine schlimmen Erfahrungen im Profifußball gemacht, die sie hemmen konnten. Alle, der Trainer, die Journalisten, die Fans, auch die Gegner, machten ihnen ständig Komplimente, welch freche, besondere Elf sie seien. Sie begannen unbedingt daran zu glauben. Und so spielten sie dann: besonders frech.
Die meisten von ihnen wurden gerade erst erwachsen, sie hatten noch keine feste Freundin und blieben auch abends eine Mannschaft, Hansi Dorfner, Roland Grahammer, Stefan Reuter, Fred Klaus, Reiner Geyer erkundeten zusammen die Nacht. Mittags beim Essen tranken sie selbstverständlich kein Bier, sondern Apfelschorle oder Spezi. Sie waren doch nicht mehr so unprofessionell wie die Bundesligaspieler der Siebziger.
In dem Wohlgefühl, das die Mannschaft trug, konnte sich Heinz Höher als unwidersprochener Tüftler ausleben. Sobald im Trainingsspiel ein Team den Ball gewonnen hatte, sprintete er die Seitenlinie entlang. Bis er am anderen Tor angekommen war, musste der Angriff abgeschlossen sein, das war seine Regel, so übte er schnelles Angriffsspiel, indem er als sichtbare, lebendige Stoppuhr an der Seitenlinie rauf und runter sprintete. Aus seiner Trainingshose hing ein T-Shirt, der schlechteste Spieler musste es im nächsten Übungsspiel tragen. »Ich will kein Tor schießen«, hatte Heinz Höher auf das Hemdchen drucken lassen. Was bis Oktober kauzig erschienen war, wirkte nun liebevoll.
Beim Hallentraining im Winter ließ er die Spieler von einer Wand zur anderen sprinten, fünfmal hin und her. Nach kurzer Pause der nächste Lauf. Wenn Dieter Eckstein nicht mehr konnte, durfte er aufhören. Das erlaubte Heinz Höher keinem anderen Spieler. Aber der Dieter war halt des Trainers Liebling, sagten sich die Kollegen und lächelten darüber, statt eifersüchtig zu reagieren.
Als Dieter Eckstein, der furchtlose Mann vor Gegners Tor, Angst vor dem Zahnarzt hatte, nahm sich Heinz Höher des Problems an. Mittwochs hatte Eckstein wegen akuter Schmerzen einen Termin beim Zahnarzt. Er kam nach einem trainingsfreien Wochenbeginn mit dem Zug aus seinem Heimatort Kehl. Heinz Höher wusste, Eckstein würde sich vor dem Zahnarzt drücken wollen. Er stellte an jedem Bahnhofsausgang einen FCN-Mitarbeiter als Wache auf und übernahm selbst den Hinterausgang. Als er Eckstein aus dem Bahnhof herauskommen sah, legte er ihm von hinten die Hand auf die Schulter und sagte: Dieter, dein Termin ist jetzt. Wer sagte denn, dass ein Trainer viel reden musste, um seine Wertschätzung auszudrücken.
Am 9. Juni 1985, nach einer Stunde im Spiel gegen Kassel, hatte sich Dieter Eckstein endlich einmal ein wenig Abstand zu den hartnäckigen hessischen Verteidigern verschaffen können und mit einem Schuss aus 18 Metern zum 1:0 getroffen. Hessen Kassel war seit vier Monaten Tabellenführer der Zweiten Liga. Nürnberg lag auf dem vierten Platz. Die zwei Erstplazierten stiegen direkt auf. Die ersten vier Mannschaften trennte nur ein Punkt. Schlug der 1. FC Nürnberg Kassel, stieg er auf, und Kassel fiel auf Rang vier zurück. Erreichte
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