Spieltage
Kassel ein Unentschieden, stieg es auf, und Nürnberg blieb vergeblicher Vierter.
Nach Ecksteins Führungstor wurde ein vor Nervosität zerfahrenes Spiel flüssiger, der junge Club erspielte sich Torchancen und vergab sie allesamt. Eine Minute vor Spielschluss tauchte bei einem Konter Kassels Michael Deuerling alleine vor Nürnbergs Tor auf. Sein Sprint war lang genug, um zu denken, jetzt ist alles vorbei. Dann hielt Nürnbergs Torwart Herbert Heider den Schuss. Im Gegenangriff zog Thomas Brunner los.
»Schieß!«, schrien Hunderte, als Brunner auf der Sechzehnmeterlinie, den Ball am rechten Fuß, bremste. Bevor ein Stürmer schießt, bevor das Publikum weiß, ob das alles entscheidende Tor fällt oder es nur die fatale, vergebene Chance war, entsteht immer ein kurzer Moment der Stille; eine absolute Abwesenheit aller Geräusche, die nur im Kopf existiert, während das Stadion weiter schreit. Nur Thomas Brunner, eingehüllt in die eigene Konzentration, konnte schon voraussehen, was im nächsten Moment passieren würde. Er hatte gebremst, um einen Pass nach rechts, zum mitgeeilten Günter Güttler, anzutäuschen. Torwart Wulf machte die Bewegung nach rechts mit, da zog Brunner links herum am Torwart vorbei.
Thomas Brunner war als Einziger der fünf rebellischen Briefschreiber verblieben. Er hatte Abbitte geleistet und war dafür sogar im Präsidium heimlich als Umfaller abgetan worden. Mit seinem Schuss ins leere Tor zum 2:0 vollendete er den Aufstieg des 1. FC Nürnberg.
Die Zuschauer stürmten zu Hunderten auf den Rasen. Der Schiedsrichter pfiff die Partie ab, obwohl eigentlich noch ein, zwei Minuten nachgespielt werden mussten. Aber das Spiel – der Aufstieg – war sowieso entschieden, da brauchte man es nicht so eng zu sehen.
Elf Tage zuvor waren beim Finale des Europapokals der Landesmeister zwischen dem FC Liverpool und Juventus Turin 39 Zuschauer erdrückt worden, als englische Hooligans einen Block mit neutralen Zuschauern stürmten, Panik ausbrach und eine Wand einstürzte. Die Fußballszene, auch in der Bundesliga, konnte nicht mehr über die Gewalt in den Stadien hinwegsehen. In Nürnberg meldete die Polizei am 9. Juni als einziges Vorkommnis einen verlorenen Autoschlüssel.
Die Aufstiegsfeier dauerte eine Woche. Es gab immer noch eine Einladung, die Heinz Höher und die Spieler wahrnehmen mussten, noch eine Bar, die sie besuchen wollten. Gleich am ersten Abend geriet Heinz Höher mit seinem Wagen in eine Polizeikontrolle. Haben Sie etwas getrunken, fragte der Polizist. Etwas war gut. Ach, aber das war doch der Aufstiegstrainer, merkte der Polizist plötzlich. Fahren Sie bitte weiter.
Alte Bochumer Freunde wie Jürgen und Ingrid Köper feierten mit. Sie waren Heinz Höher besuchen gekommen, sie waren, vor allem für Doris, immer noch ihre wahre Mannschaft. In Nürnberg war sie nicht mehr eine von den Frauen, sondern die Frau des Trainers, über zwanzig Jahre älter als die Frauen der Spieler. Jürgen Köper hatte mit dreißig seine Fußballkarriere beendet, nach dem Beinbruch war er nie mehr völlig auf die Beine gekommen. Er ließ sich zum Steuerberater ausbilden, und als er sah, welche Gewinnspannen ein Kunde mit Spielautomaten erzielte, eröffnete er Megaplay; seine eigene Firma, die Spielhallen betrieb. Die Bundesligaspieler der Siebziger wie er hatten genug Geld zur Seite legen können, um im Leben danach als Kleinunternehmer weiterzumachen, Autohausbesitzer, Eishallenbetreiber oder Immobilienverwalter. In der Zeitung jedoch standen immer nur die, die all ihr Geld verloren, bei Bauherrenmodellen oder Glücksspielen.
In Nürnberg, bei den Aufstiegsfeiern, dachte Vorstopper Roland Grahammer, jetzt geht der Heinz mal richtig aus sich heraus. Hatte er es geträumt, oder hatte der Trainer sogar eingestimmt, als das »Nie mehr Zweite Liga!« zum tausendsten Mal erklang?
Sie waren sich alle einig, dass der Club jung bleiben musste. »Bloß keine alten Spieler kaufen!«, sagte Dieter Eckstein. In der Jugend, die ihnen durch die Rebellion aufgezwungen wurde, sahen auch Heinz Höher und Gerd Schmelzer ihr Konzept, ihren Weg.
Jung zu sein hatte in einer Bundesligamannschaft bis dahin bedeutet, sich hinten anzustellen und zu folgen. Mit 20, es lag nur ein Jahr zurück, war Roland Grahammer mitten in der Behandlung von der Massagebank aufgesprungen, wenn der gestandene österreichische Nationalspieler Reinhold Hintermaier hereinkam. Artig wartete Grahammer, bis Hintermaier mit seiner Massage fertig war,
Weitere Kostenlose Bücher