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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Reng
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altes Schloss. Dort zog er ein. Jeden Sonntag, am Tag nach den Spielen, kehrte er mit seiner Frau aus indonesischem Adel und den drei Kindern zum Mittagessen vom Schloss nach Ketteldorf zurück, nach Hause. Der Flecken in Mittelfranken hatte 200 Einwohner. Hinter ein paar roten Ziegeldächern liefen bis zum Horizont Felder und Wiesen. Der Vater arbeitete als Möbelschreiner und diente als Mesner in der Kirche. Die Mutter führte den kleinen Hof.
    Auf der sonntäglichen Fahrt nach Ketteldorf, die B14 Richtung Westen, immer tiefer in das Land hinein, telefonierte Schmelzer mit den vier Nürnberger Zeitungen. Er hatte als einer der Ersten in Deutschland ein Autotelefon mit dem neuen C-Netz. Es war Pflicht, dass der Präsident am Tag nach dem Spiel mit jedem der vier Nürnberger Journalisten einzeln sprach. Sie bestanden auf dem Gefühl, exklusiv Informationen und Zitate zu erhalten. Zitate von den Protagonisten, Stimmen von den Spielern einzusammeln war unerlässlich. Wie das Spiel war, hatte doch jeder schon im Fernsehen gesehen, entweder in der Sportschau oder im Sportstudio. Die Zeitungen mussten die Hintergründe dazu liefern. Auch Heinz Formann in Bochum tupfte sich mittags Duftwasser auf den Hals und ging in die Eisdiele Faghera auf Zitatjagd, wo die VfL-Spieler Hof hielten. Einen Tee, bitte, sagte Formann im Faghera, und Eismeister Antonio brachte ihm einen Whisky in der Teetasse. In Nürnberg gingen die Journalisten neuerdings auch regelmäßig zum Training, um Stimmen einzufangen.
    Bayern München hatte 1983 als erster Bundesligist eine Pressestelle mit hauptberuflichen Mitarbeitern gegründet, und in seiner ersten bedeutenden Maßnahme bewegte Pressechef Markus Hörwick die Münchner Tageszeitungsjournalisten dazu, täglich dem Training beizuwohnen. Es sollte jeden Tag etwas über den FC Bayern in der Zeitung stehen. »Wir müssen uns davon lösen, die sportliche Leistung für entscheidend zu halten«, sagte Bayerns Manager Uli Hoeneß. »Das Entscheidende ist der Unterhaltungswert, leider. Wir sind ein Unternehmen der Unterhaltungsbranche.«
    Überall in Deutschland berichteten jede Woche ein halbes Dutzend Fernsehsender und hundert Zeitungen über die Bundesliga, aber für Heinz Höher bestand diese Medienwelt aus vier Journalisten. Die Schreiber der Nürnberger Tageszeitungen waren die Einzigen, die er sah. Sie machten die Meldungen. Die Nachrichtenagenturen griffen sie auf, und die Zeitungen im ganzen Land übernahmen sie von den Agenturen. Im Trainingslager spielte Heinz Höher mit den vier Berichterstattern Skat, und bei Auswärtsspielen durften sie schon mal im Bus mit zum Stadion fahren, um das Geld für ein Taxi zu sparen. Aber wenn nach 1:19 Punkten Bild- Zeitungs-Paule oder der Klaus von der A Z über Heinz Höhers mögliche Entlassung schrieben, dann waren das nicht zwei Stimmen von den Kerlen, die immer schnell was zu kritisieren hatten. Dann sah Heinz Höher auf das Zeitungspapier und fühlte einen unglaublichen Druck auf sich lasten, als ob tatsächlich die ganze, riesige Medienwelt gegen ihn wäre. Eine kritische Schlagzeile über sich in der Zeitung schwarz auf weiß gedruckt zu sehen hatte eine ungeheuere Kraft. Das Gehirn vergaß, dass es auch nur eine Person war, die diese Schlagzeile machte, dass es nur ein Artikel unter Hunderten in der Zeitung war. Das Gehirn glaubte, dass alle Menschen diesen Artikel lasen und die Meinung verinnerlichten. Sahen ihn die Menschen nicht alle irgendwie merkwürdig an?
    Die Fahrt vom Hotel Forsthaus zum Spiel gegen Fortuna Düsseldorf führte die Mannschaft über die Graf-Stauffenberg-Brücke am Main-Donau-Kanal entlang. Heinz Höher blickte auf das Wasser. Es schneite. In seinem ersten Jahr in Nürnberg, als sie widerstandslos dem Abstieg entgegengetrudelt waren, hatte er auf der Fahrt zu einem Heimspiel gedacht: Und wenn ich den Bus anhalten lasse und in den Kanal springe? Half nur noch irgendeine verrückte Tat, um die Mannschaft endlich aufzuwecken? Von solchen Gedanken war er nun, trotz der 1:19 Punkte, weit entfernt. Es war noch immer seine Mannschaft, der junge Club, er glaubte an die große Zukunft. Aber er wusste auch, dass es in der Bundesliga mehr unerfüllte Hoffnungen gab als Schneeflocken vor seinem Busfenster.
    Das Stadion bot einen trostlosen Anblick. Die Zuschauer blieben versprengte Inseln auf dem nackten Beton. An den ganz schattigen Stellen der Stehplätze blieb der Schnee liegen, Schnee im November, was würde das für ein Winter werden?

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