Spieltage
Pause. Er hatte gesagt, zum Mittagessen würde er zurück sein. Er radelte weiter, Ermreuth, Schlichenreuth, die Fachwerkhäuser mit den rot gestrichenen Holzbalken zogen vorbei, ohne dass er exakt realisierte, wo er war, er konnte auch im Fahren trinken. In der Elbinger Straße waren Susanne und ihr Mann Michael zum Sonntagsessen erschienen. Er hat gesagt, er ist zum Essen zurück, sagte Doris, so langsam mache ich mir Sorgen.
Es war schon 16 Uhr vorbei, vielleicht 17 Uhr, als er von Norden über die Äußere Bayreuther Straße in die Stadt zurückkehrte, er hatte sein Zeitgefühl verdrängt. Am Leipziger Hof hielt er an. Das flache Vordach ließ das Gasthaus geduckt aussehen. Ein roter Kaugummiautomat hing an der türkisen Wand. Der griechische Wirt begrüßte Heinz Höher vertrauensvoll. Später würde er ihn auf seinen Sieg mit Olympiakos über Ajax aus dem Jahr 1983 ansprechen. Er sprach Heinz Höher bei jedem Besuch auf den Triumph an. Heinz Höher ging nicht in Kneipen, um mit dem Wirt oder Gästen zu sprechen. Er wollte sich fallen lassen.
Als er gegen Abend nach Hause kam, verstand er nicht, warum alle so aufgeregt waren, warum alle mit ihm schimpften. Erst als er auf dem Sofa saß und alle noch immer auf ihn einredeten, so gehe es nicht weiter, sie riefen jetzt einen Arzt, öffnete sich ein verstopfter Gang in seinem Gehirn, und ihre Wörter erreichten ihn endlich, mein Gott, was hast du getan, wie hast du dich gehen lassen, sie haben ja recht, wie kannst du deine Frau, deine Kinder mit deiner Sauferei so belasten; du hast schon Markus verloren. Der Schwiegersohn rief den Hausarzt an. Es war Pfingstsonntag, abends. Der Hausarzt, Doktor Schütte, erschien nach kurzer Zeit. Er könne ihn morgen früh stationär in eine Entzugsanstalt einweisen lassen. Heinz Höher nickte.
Doris wachte in der Nacht mehrmals auf. Und wenn er es sich am Morgen wieder anders überlegt hatte, wenn er sich weigerte zu gehen?
Am nächsten Morgen hielten Doris und Thomas, jeder für sich, unzählige Erklärungen bereit, um ihn zu überzeugen, falls er von seiner Entscheidung nichts mehr wissen wollte. Aber er sagte einfach: Fahren wir.
Engelthal lag hinter der letzten Nürnberger S-Bahn-Station. Wer hierherkam, wollte keine Menschen sehen. Wanderer durchquerten auf dem Ulrich-von-Königstein-Weg ein paar Felder und waren schon im dichten Wald verschwunden. Heinz Höher erinnerte sich. Am Himmelfahrtstag 1988 hatte er seine Mannschaft zum Spazierengehen und Kaffeetrinken nach Engelthal gebracht. Er wollte zwei Tage vor dem entscheidenden Spiel für die UEFA-Pokal-Qualifikation gegen Kaiserslautern für ein bisschen Zerstreuung sorgen. So kehrte er nun also nach Engelthal zurück.
Die Frankenalbklinik lag abseits vom Dorf, bereits vom Wald eingerahmt. Er hatte sich ohne Alkohol selten in einer Gruppe außerhalb der Fußballmannschaft wohlgefühlt, der Zwang, etwas sagen zu müssen, zerrte an ihm. Nun befand er sich in einer Gruppe, die nur aus Alkoholikern bestand. Fluchtgedanken jagten ihn. Der Therapeut stellte ihm Fragen: Wie viel trinken Sie, wie regelmäßig trinken Sie? Trinken Sie in Phasen, trinken Sie, wenn Sie zornig oder traurig sind? Heinz Höher antwortete höflich. Aber helfen konnte er sich doch selbst, er brauchte keinen Arzt.
Nachmittags sollten sie in der Gruppe ins Dorf spazieren gehen. Vielleicht kam der eine oder andere ins Gespräch, vielleicht half es dem einen oder anderen zu hören, dass er nicht allein war in seiner Sucht. Wie Gefangene auf Ausgang, dachte sich Heinz Höher, als er in der Gruppe mitschlenderte. Er hielt den Kopf nach vorn gerichtet, damit ihn hoffentlich niemand von den anderen ansprach. Als Doris ihn am zweiten Tag besuchte, sagte er, ich fahr nach Hause, ich habe es doch jetzt kapiert, dass ich beim Trinken aufpassen muss.
Doris fühlte, wie sie, ohne sich von ihrem Stuhl zu bewegen, zusammenbrach. Heinz, ich kann nicht mehr, sagte sie: Wenn du jetzt auch noch die Therapie abbrichst, gehe ich.
Er sah sie an, und etwas in ihm schien sich in Bewegung zu setzen.
Ein, zwei Stunden später verließ Doris die Klinik im Wald von Engelthal. Sie fuhr in Nürnberg direkt zu einem Juwelier und kaufte sich einen Ring. Sie ließ das Datum des Tages eingravieren, Dienstag, 6. Juni 1995. Es war der schönste Tag in ihrem Leben, sagte sie sich. Sie hatte es geschafft. Sie hatte es wirklich geschafft, dass er sich dem Entzug stellte; dass er sich vom Alkohol endlich lossagte.
Heinz Höher blieb
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