Spieltage
Promille. Außerhalb seiner Familie hielt fast niemand Heinz Höhers Alkoholkonsum für ein Problem. Er wurde doch nie laut oder ausfallend.
Er durfte ab morgen auf keinen Fall mehr etwas trinken. Aber wie konnte er es durchstehen, wenn er am ersten Trainingstag mit dem kalten Entzug begann?
Er hatte ein klares Bild von sich: Er war stärker als die anderen Alkoholiker, er konnte einen Entzug alleine und schneller als die meisten bewältigen, schon nach zwei Tagen hatte er das Zittern im Körper, das Klappern der Zähne, das Ziehen im Kopf abgeschüttelt. Aber jetzt hatte er keine zwei Tage.
Er musste direkt ins Training einsteigen, am Sonntag schon stand das erste Spiel an, gegen den FC Gütersloh, ein Abstiegsduell, falls er verlor, hätte er gleich das Misstrauen der Spieler gegen sich, darüber kamen viele Trainer nie mehr hinweg. Er stellte sich vor, dass er gewann; dann würde sich alles wie selbstverständlich ergeben. Er wusste praktisch nichts über seine neue Mannschaft. Zwar wurden mittlerweile Spiele der Zweiten Liga ausführlich im Deutschen Sportfernsehen gezeigt, jeden Montagabend gar eine Liveübertragung. Aber er hatte die Partien im Fernsehen nur an sich vorbeiziehen lassen.
Er konnte nicht weitertrinken, wenn er morgen mit der Arbeit anfing. Er konnte nicht am ersten Trainingstag mit dem kalten Entzug beginnen. Und auf keinen Fall konnte er diese letzte Chance, dieses Geschenk, vermasseln. Verzweifelt rief er seinen Hausarzt in Nürnberg an.
So wie es Appetitzügler gab, gebe es seit März 1996 auf dem deutschem Markt auch den Alkoholzügler Campral, sagte ihm der Arzt. Er faxte Heinz Höher das Rezept ins Hotel nach Lübeck. Heinz Höher sagte ihm nicht, dass er bereits Schlaftabletten sowie Aponal nahm, einen Stimmungsaufheller, der gegen depressive Verstimmungen verschrieben wurde.
Campral müsse sie ihm bestellen, sagte ihm die Apothekerin in Lübeck. Morgen früh um halb zehn sei das Medikament da, ganz sicher. Morgen um 15 Uhr war das erste Training angesetzt. Vorher musste er sich mittags der Mannschaft und der Presse vorstellen. Heinz Höher ging ins Senator-Hotel zurück und trank noch ein paar Bier an der Hotelbar, die letzten für lange Zeit, sagte er sich.
Am Donnerstag, dem 17. Oktober 1996, stand er früh auf. Er wollte noch in den Fitnessraum, den Alkohol rausschwitzen, bevor er zur Apotheke ging. Pünktlich um halb zehn stand er in der Tür. Der Lieferant sei leider noch nicht eingetroffen, sagte die Apothekerin, aber er komme ganz sicher in den nächsten Minuten. Heinz Höher drehte Runden um die Apotheke.
Um halb elf erhielt er endlich die Packung Campral. Er spülte sofort vier Tabletten mit Leitungswasser hinunter. Er hatte nichts gefrühstückt. Er hatte zum ersten Mal seit Tagen den ganzen Morgen kein Bier getrunken. Bevor er sich um 13 Uhr der Presse stellte, nahm er noch einmal zwei Tabletten. Die Dosierungsanleitung las er sich nicht durch.
Statt wie gewohnt zum schmalen Trainingsplatz Im Burgfeld wurde die Mannschaft für 14 Uhr zum Stadion an der Lohmühle bestellt. Für die Zweite Liga war eine neue Haupttribüne mit 22 Logen gebaut worden. Wenn Heinz Höher dort die Mannschaft traf, bekam er gleich einen Eindruck, dass er hier nicht irgendwo war, und die Mannschaft würde durch den ungewohnten Treffpunkt spüren, dass etwas Besonderes begann.
Der Name des Neuen hatte sich unter den Spielern schon herumgesprochen, Heinz Höher, bei den meisten dämmerte etwas, der war doch mal bei Nürnberg gewesen. Einigen sagte der Name nichts. Das Getuschel in der Mannschaft hatte schon begonnen. In unserer Situation bräuchten wir einen Mann, der die Zweite Liga und unsere Mannschaft kennt, sagte Abwehrspieler Jörn Schwinkendorf.
Heinz Höher sprach vor der Mannschaft über Abstiegskampf, Courage, eine neue Chance für jeden Einzelnen. André Golke, der Lübecker Libero, fragte sich, was denn mit dem los war. In Heinz Höhers Ansprache fehlten die Zusammenhänge. Seine Augen hetzten durch den Raum. Zitterte er etwa? Als die Spieler die Treppen der Haupttribüne hinunterstiegen, um mit den Privatautos zum Trainingsgelände zu fahren, war keine Zeit, sich auszutauschen, bloß für einen Gedanken: Ein schräger Typ, dachte sich André Golke. Heinz Höher nahm vor dem Training noch einmal zwei Campral.
Der Trainingsplatz war sichtbar schmaler als die üblichen Spielfelder. Ein unachtsamer Schuss, ein kompromissloser Befreiungsschlag, und der Ball flog auf die Travemünder
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