Spieltage
2:1-Sieg über Schalke, sogar vorzüglich. Er selbst sah zunehmend, was er nicht konnte. Niemand beschwerte sich über seine Leistungen, aber Juri meinte beim Trainer, bei den Fans und auch bei Herrn Höher ein stillschweigendes Grummeln auszumachen, weil er aus seiner Verteidigerposition kaum zum Angriff überging. Prächtige Außenverteidiger überwältigten das Publikum mit ihren wilden Dribblings die Außenlinie entlang, so wie Dani Alves vom FC Barcelona, den alle im Internetfernsehen bewundern konnten, weshalb die meisten dachten, ein Bundesligaverteidiger müsse genauso agieren. Das kann ich nicht, sagte sich Juri Judt. Ich kann meine Seite dicht machen, da kam keiner durch, und ich kann mich ab und an nach vorne wagen, wenn ich vor dem Gegner in Fahrt bin und ihn einfach überlaufe. Aber ich bin keiner, der auf Bundesliganiveau Gegner umdribbelt, ich bin doch eigentlich ein zentraler, defensiver Mittelfeldspieler, das Aufbauspiel des Gegners brechen, schnelle, saubere Pässe spielen, ein Herr über den Spielrhythmus. Seine Zuverlässigkeit hatten seine Trainer immer an ihm geschätzt. Plötzlich, meinte Juri zu spüren, galt diese Zuverlässigkeit als bieder.
Juri, sagte Heinz Höher, ich habe mir im Fernsehen den Uchida genau angesehen, Schalkes rechten Verteidiger: Was der kann, kannst du schon lange, du hast ein viel höheres Verständnis für die richtige Position und richtige Entscheidung – geh doch einfach auch mal öfter nach vorne wie der Uchida.
Heinz Höher glaubte, Juri Mut zu machen.
Herr Höher, sagte Juri, meinen Sie nicht, dass Sie ein zu gutes Bild von mir haben?
Heinz Höher glaubte, er müsse sich um Juri Sorgen machen. Das hatte auch etwas Gutes. Er hatte etwas zu tun. Seit er keine Fußballmannschaft mehr trainierte, zogen sich die Tage wieder. Er griff für Juri zu seiner bewährten Methode bei Problemen. Er schrieb einen Brief, diesmal an Nürnbergs Trainer Dieter Hecking:
»Hallo Herr Hecking, ich stelle mich kurz vor: Heinz Höher, habe gut 400mal in der Bundesliga gecoacht, durfte in allen drei Europapokalwettbewerben mitwirken (Landesmeister-, Pokalsieger- und UEFA-Cup), habe dem Club fünf Nationalspieler beschert, während es zwanzig Jahre vor mir und zwanzig Jahre nach mir keinen Nürnberger im Trikot der Nationalelf gab. Habe in Lübeck, wo Sie ja auch mal wirkten, 1996 einen Kollaps erlitten.« Er wisse, schrieb Heinz Höher weiter, dass Juri Mängel im Offensivspiel nachgesagt würden, »aber das ist absoluter Quatsch. Keiner hat das Gefühl für den entscheidenden Pass bei höchstem Tempo, im richtigen Moment, an der richtigen Stelle, wie Juri Judt«. Nur eines fehle Juri, »ganz einfach das egoistische Denken, das Leute wie Kahn und Effenberg stolz vor sich hertragen und mit dem auch ich reichlich gesegnet war«. Juri kenne nur das Spiel zum Wohle der Mannschaft. Solch ein Spieler brauche mehr als andere die Unterstützung des Trainers, legte Heinz Höher Dieter Hecking nahe, und die richtige Position. Im defensiven Mittelfeld. Er grüßte Hecking freundlich und wartete gespannt auf die Antwort des Trainers.
Unterdessen entdeckte er auf seiner Suche, die Tage auszufüllen, das Internet. E-Mails abrufen und solch einen Kram überließ er Doris. Er wettete im Internet auf Fußballspiele. Er kannte sich doch aus im Fußball, es musste doch ein Leichtes sein, den Wettanbietern ein bisschen Geld abzuluchsen. Von den 2000 Euro Haushaltsgeld reservierte er jeden Monat heimlich 200 für das Spielen. Er dachte sich, die 200 verwandle ich jeden Monat in 2000.
Er kaufte sich einen zweiten Bildschirm, um die Quoten der Wettanbieter bwin und betfair live vergleichen und beim Lukrativeren setzen zu können. Er schaffte es nicht, den zweiten Bildschirm anzuschließen, ließ ihn aber auf dem Schreibtisch stehen. Sonntags wollte er sich nach dem Mittagsschlaf für ein, zwei Stunden vor den Computer setzen und saß nach Mitternacht noch immer davor. Er wettete auf zehn bis zwanzig laufende Spiele gleichzeitig, Lazio gegen Inter, Amkar gegen Volga Nyzhnyi Novgorod, Slavia Sofia gegen Svetkavitsa. Er kannte die Teams zum Teil nicht. Er verließ sich auf sein Gefühl für die Dynamik eines Fußballspiels, auf seine Theorie, dass nach einem 1:1 sehr häufig ein 2:1 fiel. Bloß für wen? Er wettete in der 75. Spielminute um 100 Euro, dass Villarreal noch gegen Atlético Madrid verlor, schon setzte er 300 Euro, dass bei Saint Johnstone gegen Rangers noch ein Tor fiel. Er gewann 320 Euro und
Weitere Kostenlose Bücher