Spieltage
Spielfeld. Sie feierten ihre Messe. Sie breiteten blau-weiße Fahnen auf dem Rasen aus, warfen sich auf die Knie und verbeugten sich immer wieder vor den Vereinsfarben. Jubel brandete auf. Einer der Jugendlichen verbrannte eine Bayern-Fahne. Es war noch taghell. Das Spiel sollte um 17:30 Uhr beginnen. Das Stadion hatte kein Flutlicht.
Heinz Höher trug die Nummer 9, das Statussymbol des Mittelstürmers, des Mannes für den großen Augenblick; desjenigen, der die Tore schoss. Das war ihr Trick. Während ihn die Gegner für den Stürmer hielten, würde er sich immer wieder aus dem gegnerischen Strafraum zurückfallen lassen, seinen Gegenspieler herauslocken und dann die ins Sturmzentrum hervorstechenden Charly Böttcher oder Werner Balte mit steilen Pässen bedienen.
Bayerns Mannschaftsarzt Erich Spannbauer sah sich im Stadion um und sagte zum Fußballreporter der Süddeutschen Zeitung Hans Schiefele: »Ich glaube, heute bekomme ich viel Arbeit.«
Der Schiedsrichter pfiff, und Eversberg spielte den Ball vom Anstoß weg auf den rechten Flügel, Gerd Wiesemes rannte von hinten heran, es war sein großes Jahr, 1968, wenn er rollte, war er nicht zu stoppen, Wiesemes flankte, und Böttcher köpfte den Ball an die Torlatte. Das Klatschen des Balls an die Holzlatte fuhr durch die Körper, die Erregung warf die Zuschauer vorwärts, es brauchte einige Sekunden, bis alle wieder vom Fußballplatz waren. Kein Bayern-Spieler hatte den Ball bislang berührt. Nach sechs Spielminuten schoss Hans-Jürgen Jansen das 1:0 für Bochum. Franz Beckenbauer stand, was er so wunderbar elegant konnte, still da und schüttelte den Kopf. Man schien seine Gedanken zu hören.
Nach einer halben Stunde wurde der zweite ohnmächtige Zuschauer abtransportiert. Ein Besucher fiel vom Tribünendach.
Die Bayern fanden aus dem Strudel der Bochumer Pässe nicht heraus. Heinz Höhers blonde Haare stachen leuchtend hervor. Er war der Einzige im Team, der sie, nur ein paar Millimeter, über die Ohren trug. Sportler im Grenzbereich stoßen nicht nur mit den Muskeln in neue Dimensionen vor, sondern auch mit den Augen: Höhers Vision war gestochen scharf. Mal passte er den Ball mit der ersten Berührung in den freien Raum hinter Beckenbauer, mal hielt er den Ball sekundenlang, tänzelte vor Beckenbauer, machte das Spiel schnell und machte es langsam, wie er es für richtig hielt. Er war wieder da.
Als sich der VfL Bochum in den ersten zwei nationalen Pokalrunden auf den Weg gemacht hatte, eine Sensation zu werden, mit Triumphen über den Karlsruher SC und den VfB Stuttgart, hatte Heinz Höher auf der Ersatzbank gesessen. Er wollte es nicht wahrhaben. War er jetzt schon für einen Zweitligisten nicht mehr gut genug?
Immer spukte ihm ein Satz von Sepp Herberger im Kopf herum: Du musst viel tun und noch mehr lassen. Was wusste Herberger von dem, was er nicht lassen konnte?
Er wusste selbst, dass Alkohol und lange Nächte nicht besonders gesund waren. Aber er beruhigte sein schlechtes Gewissen damit, dass er mehr tat als alle anderen. Dann musste er vielleicht auch nicht so viel lassen.
Er stand um halb sechs auf und ging vor der Fronarbeit in der Schlegel-Brauerei im Weitmarer Holz laufen, er blieb, wenn die anderen das Mannschaftstraining beendeten, noch auf dem Nebenplatz und rannte den Grashügel hoch, der als Zuschauertribüne diente, zehnmal im vollem Sprinttempo, und dann noch auf dem Platz fünfmal 30-Sekunden-Sprints mit einer halben Minute Pause.
Die Mitspieler machten Witze über ihn. Du mit deinem Training bist doch bekloppt. Sie mochten ihn, gerade weil er so schrullig war. Aber auf die Idee, ein Extratraining zu absolvieren, wäre außer ihm keiner gekommen. In der Zeit konnte man doch schon in der Umkleidekabine eine Runde Skat spielen, nach dem Duschen nur mit dem Handtuch bekleidet, und die voll verdiente Erschöpfung nach dem Fußballtraining genießen.
Heinz Höher fühlte sich den anderen überlegen. Er, der ehemalige Sportstudent, der Trainingspartner von Zehnkampf-Olympiasieger Holdorf, war der Einzige, der sich in der Trainingslehre wirklich auskannte. Oder absolvierte er, wenn er ehrlich zu sich selbst war, das ganze Lauftraining nur, um dann abends in Ruhe vor dem eigenen Gewissen zwei Bier und einen Klaren trinken zu können?
Er wischte die Gedanken weg, Gedanken brachten doch nichts, nur Unruhe.
Jetzt hörst du endlich mal auf mit dem Scheiß, fuhr ihn Trainer Hermann Eppenhoff an. Der Trainer verbot ihm jegliches
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