Spieltage
Zwei Paar Fußballstiefel pro Jahr durften sich die Vertragsspieler des VfL Bochum umsonst im Sporthaus Koch aussuchen, ein Paar für das Training, ein Paar für die Spiele. So viele Schuhe brauchten sie eigentlich nicht. Wenn man es gut pflegte, hielt ein Paar leicht zwei Spieljahre.
Heinz Höher packte am 15. Mai 1968 die Nockenschuhe ein. Er wollte den Ball mit dem Fuß streicheln. In den leichten Nockenschuhen hatte er mehr Gefühl als in den klobigeren Schraubstollenschuhen, die dafür einen besseren Halt gegeben hätten. Er legte ein Handtuch, den Trainingsanzug und die Schienbeinschoner zu den Schuhen in die Sporttasche. Beim 1. FC Köln mussten die Spieler angeblich ihre Tasche gar nicht mehr selbst packen, alles, was sie zum Spiel brauchten, wurde für sie im Klubheim ausgelegt, das musste merkwürdig sein: ohne Sporttasche, ohne das Ritual des Packens zum Spiel zu gehen. Da fehlte etwas.
Den Zaubertrank braute er zuletzt. Er füllte eine Glasflasche zu zwei Dritteln mit Orangensaft, löste Traubenzucker darin auf, füllte den Rest mit Sekt auf und rundete das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Kognak ab. Vor jedem Spiel nahm er einen kräftigen Zug. Er spürte, wie die Wärme schaurig-schön durch seinen Körper fuhr und ihn eine kribbelnde Entschlossenheit, eine neue Furchtlosigkeit überkam. Einmal hatte er zu viel von dem Zaubertrank genommen und gleich in den ersten Spielminuten den Ball mit unbekannter Wucht an die Torlatte geschossen. Da hatte er sich selbst erschrocken. War er etwa betrunken?
Die Mannschaft traf sich vormittags im Hotel Lottental. Fast alle von ihnen hatten sich für das Spiel einen Tag Urlaub nehmen müssen, der 15. Mai war ein Mittwoch. Im Lottental weideten Schafe und Pferde, wenn man Glück hatte, sah man ein Reh aus dem Wald auf die sonnenerleuchtete Wiese treten. Und auf der anderen Seite des Tals, nur ein paar Hundert Meter entfernt, erhoben sich am Hang gigantisch und futuristisch wie eine Raumfahrtstation die orangefarbenen, quadratischen Fakultäten der neu gebauten Ruhr-Universität. Es wurde viel geredet vom Wandel, vom Fortschritt, von der neuen Zeit. Die Zechen starben, stattdessen baute Opel nun Autos in der Stadt, jede Minute einen Kadett. Ganze Stadtviertel entstanden am Reißbrett, die Hustadt, die Rosenbergsiedlung, mit Wohnblöcken, die den Himmel erreichen sollten. Aber was blieb, was Bochum charakterisierte, war dieser unmögliche Einklang von grober Industrie und unbefleckter Natur. Unter den Stelzen der Autobahnüberführung lag in Bochum-Riemke das Naturschutzgebiet Zillertal. Hinter der Arbeitersiedlung Dahlhauser Heide standen Gemüsebeete und Ställe mit Hühnern, Kaninchen und dem Taubenschlag.
Als der Trainer sie im Hotel Lottental zum Mittagsschlaf schickte, legte sich Heinz Höher tatsächlich hin. Sonst war Mittagsschlaf im Trainingslager immer ein Stichwort zum Kartenspielen gewesen. Aber dieses Spiel am 15. Mai beeindruckte auch ihn. Der VfL Bochum, der im zweiten Jahr hintereinander eine autoritäre Rolle in der Regionalliga gespielt, aber wieder den Aufstieg in die Bundesliga verpasst hatte, kämpfte im Halbfinale gegen Bayern München um den Einzug ins DFB-Pokalendspiel.
Für Abende wie diesen war der Pokalwettbewerb erfunden worden. Etwas lag in der Luft; eine Ahnung, ein Traum, dass die kleine Elf wider jede Logik den Favoriten in diesem einen Spiel stürzen konnte. Etwas lag in der Luft; vielleicht war es auch nur die Illusion, dass, wenn nicht im Leben, so doch im Fußball alles möglich war.
In England war der FA-Cup – die Mutter aller Pokalwettbewerbe – ein Mythos, ein Festakt des kleinen Mannes, der immer wieder erleben durfte, wie elf unterklassige Fußballer zu Helden für einen Tag wurden. Wembley, die jährliche Austragungsstätte des FA-Cup-Finales seit 1923, seit fast hundert Jahren, war kein Stadion, sondern ein Sehnsuchtsort.
Aber in England war sowieso alles besser, fanden die Deutschen. Mit glühender Bewunderung schaute die deutsche Fußballszene über den Kanal. Vom Anfield Roar, dem fanatischen Anfeuerungsgeschrei im Stadion des FC Liverpool, schrieben deutsche Fußballjournalisten mit glühenden Ohren, ohne den Schrei je gehört zu haben. Dann die furchtlose Körperlichkeit des englischen Spiels und die Etiketten; der Handschlag mit dem Gegner, die Mütze als Geschenk für jeden Länderspieleinsatz, die Fairness. Was Heinz Höher für englische Fußballer empfand, war schon keine Ehrfurcht mehr. Er hatte Angst vor
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