Spieltage
an. Auf dem Rückweg pflückte Gerd Wiesemes ein paar Kirschen vom Zweig, der über einen Gartenzaun hing, und aß sie, mehr aus Zeitvertreib als aus Hunger. An der Hotelbar trank er mit Heinz Höher noch ein Bier gegen die Nervosität.
Wiesemes lag die gesamte Nacht wach. Es mussten die Kirschen sein, vielleicht auch die Kirschen vermischt mit dem Bier. Er übergab sich immer wieder, er litt an Schweißausbrüchen. Natürlich spielte er am nächsten Tag.
Von den Tribünen wehte der durchdringende Schrei der Vorfreude. Über 60000 der 70000 Plätze im Südweststadion waren besetzt. Aus einem Block, wo besonders viele blau-weiße Flecken zu erkennen waren, hielt ein Mann ein Plakat an zwei Bambusstecken hoch: »Hopp, hopp, hopp, wir schaffen auch den Ziegenbock.«
Vier Bundesligisten hatte der VfL nacheinander überwunden. Nur noch die Kölner, mit dem Geißbock im Wappen, standen im Weg, dann ginge es auf Europapokalreisen, Bochum gegen Madrid, Mailand oder, na ja, Banik Ostrau.
Der 1. FC Köln spielte meistens ganz in Weiß, der Farbe von Real Madrid, der Farbe der Besten; oder zumindest jener, die sich für die Besten hielten. Der 1. FC Köln trug das Erster im Vereinsnamen. Er war der erste Meister der Bundesliga, er hatte ein Trainingsgelände wie eine englische Clubanlage und Trikots von Pierre Cardin. In seiner Mannschaft vom Pokalfinale 1968 trugen einige Spieler wie Wolfgang Rausch oder Jürgen Jendrossek schon Koteletten. Spielt wie immer, sagte Bochums Trainer Hermann Eppenhoff seiner Elf.
Auf dem Spielfeld, unmittelbar vor dem Anpfiff, stellte Bochums Kapitän Horst Christopeit seinen Mitspielern einen Gast vor. Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger war gekommen. Jeden Spieler der Finalgegner begrüßte er per Handschlag. Für einen Moment lag Ludwigshafen in England. Vom dortigen FA-Cup-Finale hatte man sich die staatsmännische Begrüßung abgeschaut; in Wembley sagte die Queen den Finalteilnehmern vor dem Anpfiff Hallo.
Die Hast dessen, der es besonders gut machen will, steckte in Bochums Pässen. Die meisten Fußballer lassen sich anstecken, wenn in ihrem Team beflissene Nervosität ausbricht. Heinz Höher wurde in Ludwighafen in der Aufregung seiner Elf plötzlich ganz ruhig. Er ließ sich ins Niemandsland zwischen gegnerischer Abwehr und Läuferreihe fallen, dort fanden ihn die Kölner meist erst einen Tick zu spät. »Geschicktes Spiel des gut eingestellten Höher«, schrieb der Mann vom Kicker, Dieter Ueberjahn, und: »Immer wieder stieß der meist von Höher ausgezeichnet und weiträumig angelegte Bochumer Angriff vor.« Zu Hause in Bochum hing schon ein 20 Meter langes Spruchband am Rathausvorplatz. »Bochum grüßt den Pokal«, stand darauf.
Nach 22 Minuten eine Flanke, Bochums Werner Jablonski kam mit dem Kopf gerade noch heran, der Ball streifte ihn über den Scheitel, von dort flog der Ball unhaltbar ins Tor; ins eigene Tor.
Leute des Fußballs beurteilen ein Tor oder einen Sieg oft in den Kategorien »gerecht« oder »ungerecht«. Aber Gerechtigkeit ist kein Maßstab im Fußball. Es gibt nur Tore und Siege, die aus einer Feldüberlegenheit resultieren, oder Siege und Tore wie das der Kölner, die, völlig losgelöst vom gesamten Spiel, in einem einzigen Moment der Genialität und des Wahnsinns geboren werden.
Der VfL bemühte sich weiter. Auf der Tribüne dachte sich Bundeskanzler Kiesinger, da ist kein Unterschied zwischen Bundes- und Regionalliga zu erkennen. Das gesamte Bochumer Stadtparlament saß im Stadion. Es hatte einstimmig für die Reise nach Ludwigshafen gestimmt.
Wieder passte Höher aus dem Hinterhalt. Jablonski, den Unglücksraben des Eigentors, hatte der Wille, seinen Fauxpas wiedergutzumachen, nach vorne getrieben. Er nahm Höhers Steilvorlage direkt auf, Kölns Torwart Milutin Soskic konnte den vehementen Schuss nicht festhalten, der Ball trudelte richtungslos durch den Strafraum. Charly Böttcher aus der Schafkopfrunde drückte ihn ins Tor.
Die Sensation lebte.
Es blieb gerade genug Zeit, den Gedanken zu denken. Dann brachte Carl-Heinz Rühl die Kölner schon wieder 2:1 in Führung.
Niemand hatte in der Halbzeit das Gefühl, dieses Spiel sei entschieden. »Respekt vor der Bochumer Mannschaft. Sie hat Pokalblut«, sagte Sepp Herberger, den Dieter Ueberjahn und die anderen Reporter umringten, als wäre es noch immer 1954. Herberger war nur noch ein Zuschauer unter 60000, im dunklen Jägerhut und seinem unvermeidlichen Trenchcoat, einen Kugelschreiber zwischen den
Weitere Kostenlose Bücher