Spieltage
Die Kinder aus der ersten Reihe der Zuschauer liefen fortan bei jedem Pfiff auf den Rasen, weil sie dahinter den Abpfiff vermuteten, und so pfiff der Schiedsrichter schon bald ab, weil er keine Möglichkeit mehr sah, all die Zuschauer vom Platz zu vertreiben.
Franz Beckenbauer verschwand neben Heinz Höher im Kabinengang. Gestern haben sie wieder bis halb vier in der Nacht Karten gespielt, grummelte Beckenbauer: So kannst du nicht gewinnen.
Die Zeitungsreporter kämpften sich durch die Zuschauer, die nicht nach Hause gehen wollten. Die Reporter mussten in die Umkleidekabinen, um die neueste journalistische Mode zu bedienen. Sie brauchten Stimmen von den Akteuren. »Wunderbare Mannschaft, Bochum«, sagte Cajkovski. »Bayern war müde. Wovon, weiß ich nicht.«
Der FC Bayern erreichte dank der Niederlage ohne Verlängerung den Abendflug von Düsseldorf nach München. Der VfL Bochum feierte bis tief in die Nacht im Gasthaus Frein, vom Stadion hundert Meter die Castroper Straße hinunter. Wie immer war jeder willkommen, Spieler, Präsidium, Reporter, Zuschauer. Am nächsten Morgen pünktlich um sechs war Gerd Wiesemes, der fliegende Außenverteidiger, wieder auf der Arbeit im Stahlwerk, stolz nicht nur auf den Finaleinzug, sondern auch auf eine kleine, persönliche Beobachtung: Er hatte sogar dickere Oberschenkel als Bayerns legendärer Stürmer Gerd Müller.
»Noch ein Sieg, dann werden die Gegner Mailand oder Madrid heißen«, schrieb in der WAZ Ralf Schrage, der eigentlich Gerichtsreporter war. Im Bochumer Pokalfieber waren plötzlich alle Sportjournalisten. VfL-Präsident Ottokar Wüst gab – selbstverständlich im eigenen Herrenbekleidungsgeschäft – das Schneidern von Klubanzügen für das Endspiel in Ludwighafen gegen den 1. FC Köln in Auftrag. Heinz Höher und Gerd Wiesemes staunten nicht schlecht, als sie die Anzüge sahen. Ihre Farbe war kackbraun.
Nicht alle waren bedingungslos begeistert, dass ein Zweitligist das DFB-Pokalfinale bestritt. In der Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes in Frankfurt fürchteten einige, das Stadion würde nicht voll. Der DFB wollte dem Ersten Deutschen Fernsehprogramm eine Direktübertragung des Endspiels verweigern. Denn dann kämen doch erst recht keine Zuschauer.
Doris Höher und Erika Wiesemes lösten Bahnsteigkarten, um ihre Männer einen Tag vor dem Finale zum Schnellzug zu begleiten. Erika Wiesemes hatte sich speziell für den großen Tag eine dieser brandneuen Filmkameras gekauft. Mit ihr ließen sich Filmaufnahmen in Farbe machen. Die Männer trugen die kackbraunen Anzüge mit Einstecktuch.
WAZ- Mitarbeiter Knud Beukert interviewte Helmut Oberländer, den Lokomotivführer des Schnellzugs D370 über Köln nach Ludwigshafen. »Ich halte die Daumen für Bochum«, sagte der Zugführer. Doris Höher erzählte dem WAZ- Reporter, dass Heinz Höher vor der Abfahrt den vierjährigen Markus noch über das Knie legen musste, weil der Kleine das Bett eingenässt hatte. »Wenn wir in Ludwigshafen gewinnen, darf Markus ruhig mal gratis«, sagte Doris dem WAZ - Reporter, der für seine Leser hinzufügte, dass dies ein Scherz gewesen sei. In der Zeitung hießen die Ehefrauen: die Spielerfrauen.
Die Frauen würden am Samstag direkt zum Finale nachreisen. Vorher störten sie die Männer nur in der Konzentration.
In der ersten Klasse des Schnellzugs, noch vor Wattenscheid, hatten Gerd Wiesemes, Gustav Eversberg, Charly Böttcher und Heinz Höher die Schafkopfkarten ausgeteilt.
Der 1. FC Köln bereitete sich bereits die gesamte Woche in einem Trainingslager auf das Endspiel vor. Der Ort, in dem sie logierten, hieß Maikammer. Rundherum war Wald, und dahinter erstreckten sich die Pfälzer Weinberge. Quartier bezogen die Kölner in einer Pension, dem Waldhaus Wilhelm. Komfort machte Fußballer nur träge, fanden die Trainer. Was eine Mannschaft zum Trainingslager brauchte, war Abgeschiedenheit. Auf den Frühstückstischen im Waldhaus Wilhelm standen kleine Vasen mit selbst gepflückten Wiesenblumen. Die Kölner Wolfgang Weber und Heinz Hornig bekamen vom Mannschaftsarzt noch eine Spritze, gegen Heuschnupfen.
Die Bochumer hatten unter der Woche arbeiten müssen. Für die Nacht vor dem Finale quartierten sie sich im Gartenhotel Heusser in Bad Dürkheim ein. Der WAZ- Reporter war in Köln aus dem Schnellzug ausgestiegen. Bis Bad Dürkheim mitzufahren war die teure Fahrkarte nicht wert.
Abends schickte Trainer Eppenhoff die Mannschaft ins Kino. Sie sahen sich 10000 blutige Dollar
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