Spieltage
er für seine Mannschaftskollegen der Einzige beim VfL, der nicht wirklich arbeiten musste. Die anderen waren bei der Westfalen-Bank angestellt oder malochten in den Stahlwerken und Zechen des Bochumer Vereins, wobei man sehen musste, wie lange die Hochöfen noch brannten. Von Bochums 70 Kohleschächten waren nur noch fünf in Betrieb. Die Zeche Prinz Regent hatten sie zugemacht, nachdem sie gerade modernisiert worden war. Öl und Gas waren saubere Energien, dagegen kam Kohle nicht an. In der Schlegel-Brauerei erzählten sie vom Südwind, der die frisch gewaschene Wäsche an den Stangen zwischen den Häuserblocks schwarz gefärbt hatte, wie von einem anderen Leben. Es war gerade einmal vier, fünf Jahre her.
Gerd Wiesemes, einer der Außenverteidiger des VfL, arbeitete noch im Stahlwerk. Von sechs bis 14 Uhr hob er als Materialprüfer die Schwungscheiben vom Stapel, die sie für die VW-Achsen produzierten, legte sie in die Prüfmaschine und trug sie zurück, 15 Kilo heben, tragen und wieder rausheben, zurücktragen, ein paar Hundertmal am Tag. Es war, ohne dass er es merkte, das beste Training. Von Natur aus hoch aufgeschossen, mit eleganter Nase und dichten Augenbrauen, wurde Wiesemes mit fein definierten Oberarmmuskeln und kräftigen Beinen ein Athlet unter Spielern. Wenn er im Sprint ins Rollen kam, wollte man nicht im Weg stehen.
Wiesemes hatte mit dem Fußball nie Geld verdienen wollen. Als ihm 1961, mit 18 Jahren, der Sprung von der Jugendelf des VfL in die erste Elf gelang, sagte der Geschäftsführer im Vorbeigehen mehrmals, kommst du nach dem Training mal kurz bei mir vorbei. Wiesemes wusste genau, was der Geschäftsführer wollte. Er sollte einen Kontrakt als Vertragsspieler unterschrieben. Wiesemes türmte jedes Mal. Er schämte sich, Geld für das Fußballspielen zu erhalten. Er hatte nur einen Traum gehabt: für die erste Elf des VfL zu spielen. Diesen Traum wollte er nicht mit Geld beflecken.
Irgendwann wartete der Geschäftsführer vor der Umkleidekabine, bis Wiesemes herauskam, und führte ihn persönlich zur Vertragsunterschrift auf die Geschäftsstelle hinauf.
Bei Wiesemes trafen sich die Kartenspieler. Abends nach dem Training gingen Charly Böttcher und Gustav Eversberg zu ihm, Heinz Höher kam auch mit, nur kurz, sagte er, von Wiesemes’ Wohnung in Eppendorf hatte er es nicht weit in die Kaulbachstraße. Um 22 Uhr wollten sie immer Schluss machen mit den Karten. Das Problem war, dass einer logischerweise immer am Verlieren war. Er glaubte, er könne, er müsse sich das Geld zurückholen, deshalb bestand er darauf, noch eine Partie zu spielen, es war immer nur noch eine Partie, bis zwölf oder ein Uhr. Einmal kam Wiesemes’ kleine Tochter gegen vier oder fünf am Morgen zu ihrer Mutter ins Schlafzimmer: Mama, in der Küche sitzen fremde Männer.
Am Anfang des Abends spielten sie um zwanzig, dreißig Mark, meistens Schafkopf. Daraus wurden hundert Mark Einsatz. Wenn Heinz Höher verlor, ging es nach Mitternacht schon einmal um tausend Mark, der Lohn von zwei, drei Wochen. Als die Mannschaft auf Saisonabschlussfahrt nach Bulgarien ging, spielten Wiesemes, Höher und Böttcher während des Spazierengehens Karten.
Freundschaftsspiele im Ausland, wie gegen die bulgarische Nationalelf, oder der Besuch von ausländischen Mannschaften in Bochum fanden regelmäßig statt. Deutsche Sportteams, Theatergruppen oder Orchester sollten der Welt zeigen, dass dies ein anderes Land geworden war, dass vom neuen Deutschland nie mehr ein Krieg ausgehen würde. Wenngleich dieser Auftrag den allzeit Karten spielenden Sportlern allenfalls marginal bewusst war.
In den Sommerferien kehrten die Höhers nach Texel zurück. Dort wussten sie, was sie hatten. Im Urlaub ging es darum, sich auszuruhen, nicht irgendwelche Entdeckungen zu machen. Heinz’ Schwester Hilla schloss sich ihnen mit ihrer Familie an.
Beim Frühstück fragte Hilla ihren dreijährigen Sohn, was er auf seinem Brot haben mochte. Was fragst du denn da, sagte Heinz Höher, die Kinder sollen was auf ihr Brot kriegen und Schluss. Hilla behielt ihr Erstaunen für sich: Ihr verhätschelter Bruder plädierte für eine strenge Erziehung? Am Vormittag trafen sie sich am Strand, Hilla sah die Höhers von fern über die Dünen kommen. Doris hatte die zwei Kinder, den Kinderwagen, die Badetasche. Heinz Höher trug leger ein Buch in der Hand.
1968
Helden für einen Tag
Zu jedem Spiel brachte Heinz Höher sein Paar Fußballschuhe und einen Zaubertrank mit.
Weitere Kostenlose Bücher