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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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einzudringen, und ihn im Sommer für vier Wochen nach Masuren begleitet.
    Bald nach seiner Anstellung auf Ernst-Bloch hatte Smutek irgendwo zwischen Olsztyn und Ostroda ein Häuschen gekauft, ganz aus Holz und dicht am Wasser, und war seitdem Jahr für Jahr allein hingefahren, um sich mit Schwimmen, Lesen, Renovierungsarbeiten und sehnsüchtigen Gedanken an seine Frau die Zeit zu vertreiben. Unermüdlich hatte er sich dem Ausbau seines kleinen Palastes gewidmet, ohne zu wissen, ob die Schwelle jemals vom Fuß seiner Königin überschritten würde. Er kannte Vögel, die ein Frühjahr lang mit aller Kraft und Kunst kugelförmige Nester errichteten, neben denen sie dann ängstlich hockten, während fette Angebetete darin wüteten, mit Flügeln schlugen und die Schnäbel in die empfindlichen Geflechte stießen, bis alles zerrupft und verkommen auseinander hing. War das Nest zerstört, wurde der Baumeister sogleich verlassen. Hielt es stand, bekam er eine Chance.
    Smutek stieg Hitze ins Gesicht, wenn er an diese Vögel dachte. Ihm war es noch schlechter ergangen - seine Angebetete hatte sich bis zu diesem Sommer nicht einmal zu einer Begutachtung herabgelassen. Stattdessen hatte sie ihren beißenden Spott über ihm ausgegossen. Er sei sich also nicht zu schade, als Sommerfrischler in ein Land zu fahren, das ihren Vater getötet und den seinen mit Füßen getreten habe? In ein Land, das ihn, Smutek, im Alter von achtzehn Jahren inhaftiert und anschließend rausgeworfen hatte? Bist du so ein großer Holzkopf, Smutek, dass du das alles vergessen kannst? Oder stellst du deinen Liegestuhl am liebsten auf Familiengräber?
    Er hatte es aufgegeben, ihr erklären zu wollen, das ein einziger Satz seine Freundschaft zu ihrem gemeinsamen Heimatland gerettet hatte; ein Satz, den sein Vater die Treppe hinunterrief, als Smutek im zarten Jünglingsalter eines Nachts von Uniformierten aus dem Bett geholt wurde.
    »Mach dir nichts daraus, Sohn! Jeder gute Pole geht einmal im Leben ins Gefängnis, weil er im Kampf fürs Vaterland vom eigenen Vaterland verhaftet wird.«
    Dabei hatte Smutek nicht einmal gekämpft, sondern gerade ein völlig unpolitisches Studium aufgenommen, Physik und Mathematik. Draußen hielt der Januar die Stadt Krakau im Griff, weggeworfene Weihnachtsbäume froren am Boden fest. Das Gefängnis war nicht beheizt.
    Smutek hatte nichts vergessen, im Gegenteil besaß er das Gedächtnis eines Elefanten und erinnerte sich an alle Einzelheiten. Er wusste noch, wie er ein halbes Jahr später auf den endlos weiten Straßen Westberlins gestanden hatte und wie ihm diese Straßen nach einem Leben in Krakaus Gassengewirr, nach sechs Monaten Gefängniszelle und achtundvierzig Stunden im käfiggroßen Laderaum eines Transporters als trockene Flussbette in einer gigantischen, steinernen Landschaft erschienen waren. Lange hatte er still auf einer Stelle ausgeharrt und sich über die geringe Körpergröße der Passanten gewundert, die achtlos an ihm vorbeiflanierten und ihn nicht mehr beachteten als die Bäume in der Allee. Genau wie die Bäume konnte er ihnen von oben auf die Köpfe gucken. Er hatte sich die Deutschen größer vorgestellt. Zum letzten Mal hatte er als Kind welche gesehen, sie machten Urlaub auf einem Campingplatz in Masuren, gar nicht weit von dem Ort, an dem heute sein Häuschen stand, und sie waren riesengroß. Wie alle anderen Kinder hatte Smutek Angst vor den Deutschen, vor ihrer Kraft, ihrer Brutalität und ihrer >Intelligenz<, von der manchmal am Abendbrottisch die Rede war und die er für eine besonders moderne und gefährliche Waffe hielt. Als er auf dem Campingplatz unversehens diesen beiden Prachtexemplaren gegenüberstand, verfiel er in Schreckstarre und duckte sich klein im Gras zusammen, während die Deutschen über ihm turmhoch in den Himmel ragten. Sie sprachen ihn an mit ein paar Brocken Polnisch, die er in seiner Panik nicht verstand, und zwängten ihm Bonbons in die fest geschlossene Faust. Kaum waren sie verschwunden, rannte er schreiend zum elterlichen Zelt. Mama! Tata! Niemcy dali mi eukier! Die Deutschen haben mir Zucker gegeben!
    Vielleicht hatte er in Vorausahnung seiner bevorstehenden Abschiebung in die Bundesrepublik zu wachsen begonnen. Kaum im Gefängnis, war Smutek in die Höhe geschossen, als wollte er durch die Zellendecke ins Freie brechen. Nach drei Monaten ragten Hand- und Fußgelenke aus der Häftlingskluft, und der Stoff spannte über Brust und Oberschenkeln. Smutek teilte sich den

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