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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Wärter oder Artgenossen gekommen war, wusste Teuter nicht zu sagen und wollte auch nicht viel davon sprechen, solange Ernst-Bloch von solchen Schrecknissen verschont blieb. Singsaal, der vor den Sommerferien offiziell noch im Amt gewesen war, hatte dabeigesessen, gutmütig gelächelt und Ada nach ihren Lieblingsfächern gefragt. Die Mutter suchte unablässig Teuters Blick, da dieser, soviel sie verstanden hatte, der Mann der künftigen Stunde war. Als er begann, Adas Schulwissen zu testen und diese nicht aufhörte, ihm mit glasigem Blick zwischen die Augenbrauen zu starren und mit langsamer Stimme wie zu einem Geisteskranken zu sprechen, hätte die Mutter ihr mit dem Hackenschuh vors Schienbein getreten, wenn Singsaals Gründerzeitschreibtisch nicht längst einer neuen Stahl- und Glaskonstruktion gewichen wäre, die keinerlei Sichtschutz bot. Die Mutter senkte den Blick auf den Boden, wo Computerkabel sich unter dem Tisch in einem Schlangennest ringelten.
    In gleichgültigem Tonfall beantwortete Ada eine Frage nach der anderen, ohne sich den geringsten Fehler zu erlauben. Mit jeder neuen Antwort wuchs Teuters Missmut. Er war stolz auf seine Allgemeinbildung und brachte die Mutter mit herrischer Handbewegung zum Schweigen, als sie entschuldigend einwarf, Ada habe schon immer in allen Fächern die besten Noten erhalten. Singsaal machte ein bekümmertes Gesicht. Erst als Teuter von Naturwissenschaften und Literatur zur Religionskunde überging und Ada angab, die Bibel nie gelesen zu haben und deshalb keine Aussage darüber treffen zu können, was David und Goliath mit den gegenwärtigen internationalen Konfliktstrukturen zu tun hatten, atmeten alle gemeinsam auf. Die Mutter wusste, dass Ada seit ihrer Kindheit damit beschäftigt war, sämtliche Bücher im gemeinsamen Haushalt zu lesen. Es gab drei große Regale, die drei verschiedenen Personen gehörten: das erste Adas verstorbenem Vater, das zweite dem Stiefvater, der die Familie vor zwei Jahren verlassen hatte, und das dritte der Mutter selbst. Die Bibel stand im ersten Regal unten rechts. Ada hatte sie genauso gelesen wie den Rest.
    Teuter beendete das Gespräch mit einem milden Kurzvortrag über die Fortgeltung der Bibel als Fundus westeuropäischen Kulturmaterials, über ihre Bedeutsamkeit für jeden philosophischen, ja, selbst atheistisch begründeten Diskurs, der sich doch immer nur über eine Negierung der Gottesfunktion etablieren könne, wechselte daraufhin einen kurzen Blick mit Singsaal und hieß Ada herzlich auf Ernst-Bloch willkommen. Das Prinzip Hoffnung, schloss er, gelte auf dieser Schule mehr als an jedem anderen Ort.
    Im Lufttunnel waren sie Smutek und Höfi begegnet. Der Erste trug kurze Hosen, Laufschuhe und einen Salzrand getrockneten Schweißes über der Oberlippe, der Zweite ging gebückt mit auf dem Rücken verschränkten Händen und verschwand fast in seinem olivgrünen Cordanzug. Neue Schülerin?, hatte Smutek gefragt, woraufhin die Mutter kokett zur Decke sah: Mein lieber Herr, so jung bin ich nun auch nicht mehr. Sie lachten gezwungen, schüttelten Hände, Smutek, Deutsch und Sport, und setzten ihre verschiedenen Wege fort.
    »Ja nee, das Prinzip Hoffnung«, sprach Teuter ins Mikrophon, »gilt heute wie vor hundert Jahren auf dieser Schule mehr als an jedem anderen Ort.«
    Der Applaus spülte ihn zurück auf seinen Platz, wie die Flut ein Schiff in den Hafen trägt. Weil er genau vor Ada saß, trafen sich ihre Blicke versehentlich. Am Abend des Tages machte Ada eine der seltenen Eintragungen in ihr Tagebuch, das >An Selma< hieß:
    »Kein Philosoph würde ein dickes Buch schreiben, wenn er im Vornherein wüsste, auf welche Weise er später zitiert werden wird. Als man dem Menschen verbot, in die Zukunft zu blicken, hatte man nur sein Bestes im Sinn. Da ich durch die Gegenwart nach vorne sehen kann wie durch ein feines Moskitonetz, werde ich mein Leben lang nichts von Bedeutung tun.«
    Smutek erinnert sich an ein paar Erinnerungen
    F ür Smutek hatte das Schuljahr nicht schlecht begonnen.
    Zwar trug die Aussicht, ab sofort unter einem Mann zu arbeiten, den die Schüler abwechselnd >Töter<, >Täter<, >Teutone< und >Euter< nannten, nicht zur Verbesserung seiner Stimmung bei, die am Ende der Sommerferien gewohnheitsgemäß miserabel war. Aber Smutek fühlte sich glücklich und konnte die Gründe benennen. Seine elfengleiche, kapriziöse Ehefrau hatte ihre hartnäckige Weigerung aufgegeben, jemals wieder in polnischen Land-, See- oder Luftraum

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