Spieltrieb: Roman
Knastalltag durch Trainingseinheiten aus Liegestützen, Klappmessern und Kniebeugen in verdauliche Happen und gehörte bald zu den Gefangenen, die niemals Ärger mit den Zellengenossen haben. Er überwand die eins neunzig und hörte erst wieder mit Wachsen auf, als sie ihn aus der Zelle holten. Smutek musste heute noch lachen, wenn er daran dachte, wie er auf dem Kurfürstendamm gestanden und sich gewundert hatte, dass die Deutschen nicht drei Meter hoch waren.
Berlin war heiß gewesen wie ein Backofen, und Smutek rannte tagelang durch die Stadt, als hoffte er, irgendwo auf einen Knopf zur Regulierung der Temperatur zu stoßen. Im Nordhafen Spandau stelle er Antrag auf politisches Asyl und hoffte auf Ablehnung, auch wenn er nicht wusste, was es bedeutet hätte, wie ein Bumerang in die Hände seiner Rausschmeißer zurückzukehren. In diesem Jahr aber verzeichnete Deutschland einen einzigartigen Tiefstand in der Zahl politischer Flüchtlinge aus den Ostblockgebieten, und so reichte es mühelos für ein kleines Asyl, das Smutek am einundzwanzigsten Juli erhielt, kurz nach dem spektakulären Papstbesuch in Polen und einen Tag vor Aufhebung des Kriegszustandes. Währenddessen wartete seine Familie in Krakau mit täglich steigender Unruhe darauf, dass er aus dem Militärgefängnis entlassen würde. Smutek, der sie nicht durch einen Kontaktversuch aus Westberlin in Gefahr bringen wollte, verstand viel zu spät, dass sein schlaues Schweigen die schlimmste Bedrohung darstellte. Schließlich erfuhr Smuteks Vater, der sich immer ein kämpferisches Kind gewünscht hatte, dass sein Sohn aufgrund einer tragischen Namensgleichheit mit irgendeinem Solidarnosc-Aktivisten inhaftiert worden war und sich inzwischen nicht mehr im Gefängnis befand. Der bloße Gedanke an eine solche Verwechslung offenbarte das ganze schreckliche Ausmaß göttlicher Possenreißerei, die ein Mensch im Leben zu erdulden hatte. Smuteks Vater war gläubiger Katholik. Er wurde krank.
Um mit dem Verlust seines gesamten bisherigen Lebens zurechtzukommen, hatte Smutek damals beschlossen, ein anderer Mensch zu werden. Er schwor den Naturwissenschaften ab und wollte jetzt Sport und Germanistik studieren. Für das eine brauchte er keine Sprache; für das andere fehlte sie ihm so vollkommen, dass er glaubte, es unbefangen versuchen zu können. Als Erstes musste er lernen, was das Wort >Duldung< bedeutete. Er wurde Stammgast auf dem Ausländeramt der Universität. An irgendeinem beliebigen Werktag entdeckte er dort ein Mädchen, das er an der Kleidung sowie ihrer Art, sich ständig verstohlen umzusehen, sofort als Landsmännin erkannte. Als er sie auf Polnisch ansprach, schrak sie zusammen wie eine Ertappte, die seit Wochen auf den Moment der Entdeckung wartet.
Viel zu begeistert, um auf ihre abwehrenden Hände Rücksicht zu nehmen, verlangte Smutek, sie möge ihr fließendes Deutsch einsetzen und ihm bei der Verständigung helfen. So vernahm er aus ihrem schönen Mund, dass sein Status in diesem Land weder zum Arbeiten noch zum Studieren, noch zum Erwerb einer sonstigen Ausbildung berechtigte. Was ihm dann bliebe? Czekac, warten, sagte seine künftige Frau. Warten, meinte Smutek, sei ebenso wenig eine Tätigkeit wie Bleiben oder Wohnen, und im Übrigen wisse er nicht, worauf. Man gab ihm Recht. Ob er als Gasthörer ein paar Seminare besuchen dürfe? Das sei mit dem jeweiligen Professor zu klären. Smutek fasste, überwältigt vom Glück, seine künftige Frau an den Händen: Slyszysz, hörst du, ich kann zur Uni gehen. Da war er achtzehn und sie zwanzig.
Sie stammten beide aus Krakau, und das war in Smuteks Lage Grund genug, an die Macht der Vorsehung zu glauben. Er war Asylant, sie Exilantin, was ihm zuerst fast dasselbe schien, während er Jahre später begriff, dass zwischen diesen beiden Spezies ein himmelweiter Unterschied bestand, der sie für immer voneinander trennen würde. Frau Smutek in spe hasste die Volksrepublik. Sie sah aus wie eine weißhäutige Carmen und führte heißes Blut in den Adern. Ihren alten Vater hatten die Teufel in Warschau einem polnischen Winter zum Fraß vorgeworfen, so dass er langsam in seiner Zelle zugrunde gegangen war. Er war Gewerkschaftsmitglied gewesen und hatte den erbarmungslosen Hass auf >die russische Leiche Polens< an seine Tochter vererbt, die ihn der Vollendung entgegentrieb. Als sie von Smuteks Gefängnisaufenthalt erfuhr, leuchtete das Schwarz ihrer Augen wie unter plötzlichem Licht. Ihre Begeisterung über seine
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