Spieltrieb: Roman
zu jung für jede Art von Entscheidung. Seit er im Amt war, wurde von der >Gründerzeit< mit nostalgischer Wehmut wie von etwas lang Vergangenem gesprochen.
Die folgenden Strophen waren dem scheidenden Direktor Singsaal gewidmet. Wie viele junge Lehrer verdankte Smutek ihm seine Einstellung. Mit Liebe und Hochachtung sprach er von Singsaals enormen Segelohren, mit deren Hilfe dieser stets über den Dingen zu schweben schien. Einige ältere Schüler klatschten spontane Ovationen, Singsaal lächelte gerührt, am Westrand der Aula wurde im Lager des neuen Direktors hartnäckig geschwiegen. Der neue Direktor hieß Teuter, war ein Studienfreund des jungen Gründers, klein wie ein Jockey und mit der Stimme von Kermet dem Frosch gesegnet. Seit seiner Wahl zum Direktor zogen sich tiefe Schützengräben durchs Lehrerzimmer. Hinter Teuter stand eine Fraktion von Pädagogen, die Singsaal nett fand, seinen Führungsstil aber zu lasch. Man brauchte nur die Zeitungen aufzuschlagen, um zu wissen, dass auf deutschen Schulen geraubt, erpresst, vergewaltigt und gefoltert wurde. Teuters Freunde wollten den Abnutzungserscheinungen am Wall zwischen Alltagsverhalten und Kriminalität entgegenwirken. Einen Schüler ernst nehmen, bedeutete auch, nicht blindlings an die Unschuld im Kinde zu glauben. Zwischenmenschliche Beziehungen lebten nun einmal von ihrem normativen Charakter - das klang vielleicht nicht hübsch, entsprach aber der Wahrheit, und daran würde niemand, vor allem nicht Leute wie Smutek oder Singsaal, etwas ändern können. Ada hatte Teuter auf den ersten Blick nicht ausstehen können. Er sah aus wie einer, der die Welt hasste, um sich selbst lieben zu können, und Ada hielt großen Hass ebenso wie starke Liebe für ein Zeichen von Dummheit.
Auf dem Weg vom und zum Rednerpult begegneten sich die beiden Männer und gaben einander die Hand. Dabei befand sich Smuteks Krawattennadel auf Teuters Augenhöhe: Ein goldfarben lackiertes Stück Blech mit Motto und Emblem der Schule. Denken heißt Überschreiten.
Die Zeit des Überschreitens, so Teuter auf dem Podium, sei in gewisser Weise inzwischen vorbei. Selbstverständlich habe jeder intelligente Mensch die Grenzen seiner Verstandeskraft immer wieder neu auszuloten und wenn möglich zu übertreffen. Überhaupt sei >Übertreffen< das begrüßenswerte Dogma einer leistungswilligen Gemeinschaft. Innerhalb eines freiheitlichen und menschenwürdigen Staatswesens komme dem Begriff des Überschreitens jedoch eine veränderte Bedeutung zu. Eigentlich eine negative Bedeutung. Glücklicherweise! Denn könne es etwas Schöneres geben als das Leben in einem Staat, den man lieben und achten darf, anstatt ihn bekämpfen zu müssen? Solange Regeln wünschenswert sind, ist ihre Überschreitung unerwünscht. Teuter bevorzugte deshalb die Wendung >Be-schreiten<, die er als zeitgemäß angepasste Deutung von >Überschreiten< verstanden wissen wollte. Denken heißt Beschreiten. Nicht zu verwechseln mit >Bestreiten<.
»Denken heißt zwar auch Bestreiten«, sagte er hinterm Rednerpult, »ja nee, aber nicht im Unterricht!«
Im Westflügel der Aula wurde gelacht.
Auch Adas Mutter hatte gelacht, als Teuter während des Vorstellungsgesprächs denselben Vortrag mit demselben schmächtigen Witz abschloss. Geistreich!, hatte sie gerufen, das ist sehr geistreich!, und Ada war es nicht einmal gelungen, ihr deshalb böse zu sein. Aufrecht wie am Marterpfahl hatte die Mutter auf dem Besucherstuhl neben Teuters Bürotisch gesessen und ihre schwarz gefärbte Kleopatrafrisur alle zwei Minuten mit den Fingern glatt gestrichen. Ihr rechter Fuß schwebte am übergeschlagenen Bein in der Luft und zuckte im schnellen Takt der Herzschläge. Ada wusste, dass sie lieber geweint hätte als gelacht - geweint vor Erleichterung darüber, dass Teuter die Verbrechen ihrer Tochter mit der klinischen Nüchternheit eines Mannes behandelte, der Schlimmeres gewohnt ist. Die Froschstimme zog sich Gummihandschuhe über und implantierte Adas Untat in einen abstrakt-soziologischen Kontext, in dem sie gut aufgehoben war, beinahe schon einen Sinn ergab und vor allem nicht wieder vorkommen würde. Mit dem professionellen Optimismus eines Arztes redete Teuter von der Herrlichkeit des demokratischen Systems, in dem sie alle lebten und an das es junge Menschen zu gewöhnen galt wie Tiere an die Bedingungen eines kleinen, bequemen Naturreservats. Warum es in letzter Zeit vermehrt zu Ausschreitungen der zahmen Reservatsgäste gegen ihre
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