Spielwiese: Peter Nachtigalls siebter Fall
nahm ihm gleichmütig das zerhackte, durchgekaute Lederding wieder ab. Stolz trug sie ihre Beute davon, offensichtlich ohne eine Spur von Verständnis für die Aufregung, die sie ausgelöst hatte.
»Jetzt ist es eh schon egal!«, lachte Kramer und ließ sich achselzuckend wieder in den Sessel fallen. »Ich habe wohl vergessen, die Schublade ordentlich zuzuschieben. Philomena ist immer auf der Suche nach einem neuen Spielzeug, vor ihrem Schnabel ist nichts sicher! Tja, mein und dein – klappt doch nicht immer.«
»Aber das Rheuma war noch nicht alles«, blieb Nachtigall hartnäckig beim Thema. »Es wurde ein künstliches Kniegelenk implantiert.«
»Ja, das war nun wirklich Pech. Ein Unfall.«
»Das bedeutete doch das sportliche Aus?«
»Roland hat das nicht so gesehen. Ich habe mich nach der OP mit ihm unterhalten und war erstaunt, wie zuversichtlich er von seiner Zukunft redete. Er meinte, das sei alles kein so großes Problem, bei jungen Menschen heile das künstliche Gelenk schnell ein und mit ein bisschen Physiotherapie sei er bald fast wie neu.«
Nach einer längeren Pause setzte hinzu: »Und dann war Roland weg.«
»Hm. Was haben Sie gedacht, als Sie von seinem Verschwinden erfuhren?«
»Den hat jemand umgebracht.«
Albrecht Skorubski war nervös. Seine Hände feucht, sein Puls zu schnell, zu hart.
Es fiel ihm schwer, die Beine ruhig zu halten. Schon ein paarmal hatte er allen Willen aufbringen müssen, um seinen hektisch wippenden Fuß wieder zum Stillstand zu zwingen. Nun wartete er hier schon seit fast einer Stunde. Das Buch in seinem Schoß konnte ihn offensichtlich nicht ablenken – er las noch immer dieselbe Seite wie bei seiner Ankunft hier. Bestimmt sind die nervtötenden Gespräche der Mitwartenden schuld an meinem Konzentrationsproblem, tröstete er sich und funkelte die korpulente Dame mit den hellblauen Löckchen wütend an, deren Verwandtschaft und Bekanntenkreis durch die unglaublichsten Erkrankungen dezimiert worden waren. Gerade berichtete sie einer ständig wie Espenlaub zitternden, hochbetagten Dame in allen Details die Symptome des Bronchialkarzinoms, das bei ihrem Mann festgestellt worden war.
»Und dieser Husten! Na, ich kann Ihnen sagen, keine Nacht schläft man mehr durch. Vorgestern erst sprach mich eine Bekannte auf der Straße an. Sie sei besorgt um mich, weil ich in letzter Zeit immer so blass und müde aussähe. Aber ist das ein Wunder? Ich sage meinem Mann ja immer, er solle sich einfach ein bisschen zusammenreißen. Das Risiko war schließlich bekannt – aber ihm haben die Zigaretten trotzdem geschmeckt.«
»Ja, ja. Ist schon tragisch«, antwortete die dünne Frau mit brüchiger Stimme. »So viele Menschen sterben an Krebs. Die Forschung findet einfach kein Mittel dagegen.«
»Kann sie auch nicht«, krähte ein ausgemergelter Mann aus der hinteren Ecke. »Krebs ist doch nicht gleich Krebs. Ausgemachter Blödsinn zu glauben, es könnte eine Pille geben, die sowohl Leukämie, Prostatakarzinom oder Darmkrebs heilt!«
Skorubski hob sein Buch etwas höher und versuchte, sich doch noch auf den Text zu konzentrieren. Krebs!, hämmerte es unablässig hinter seiner Stirn, Krebs! Was, wenn er tatsächlich ernsthaft krank war? Das übergeschlagene Bein fing erneut an zu wippen. Wie losgelöst vom Rest des Körpers. Als führe es ein Eigenleben.
Und diesmal gelang es Skorubski nicht, es unter Kontrolle zu bringen.
»Umgebracht? Sie dachten sofort an diese Möglichkeit?«, staunte Nachtigall. »Warum?«
»Nun, in erster Linie wohl deshalb, weil der Roland so feige war.«
»Feige?«
»Ja. Sie wissen noch nicht so viel von unserem Jungen, wie? Wahrscheinlich nur, was in den Akten steht? Roland Keiser wohnte in meinem Bezirk und ich wusste um seine Schwierigkeiten. Also hatte ich immer ein Auge auf und ein Ohr für ihn. Oft genug saß er hier in meiner Küche und schüttete mir sein Herz aus. Das überrascht Sie, nicht wahr?«, fragte Kramer aggressiv. »Ausgerechnet beim Abschnittsbevollmächtigten! Das ist doch nicht zu glauben!«
»Ein bisschen staune ich schon, ja. Aber illegale Dinge wird er mit Ihnen wohl kaum besprochen haben, nehme ich an.«
»Nein«, gab Kramer zu und lachte leise. »Nein, das nun wirklich nicht. Aber über persönliche Dinge haben wir gesprochen. Sie können mir glauben, der hatte keinen Mumm in den Knochen. Ständig hat er nur rumlaviert, wollte bei den anderen beliebt sein und gleichzeitig seine Karriere nicht gefährden. Viele Trainer
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