Spillover
Richtung immer geringerer Gefährlichkeit? Waren die evolutionären Wechselbeziehungen zwischen Kaninchen und Mikroorganismen auf dem Weg zu Zinssers »vollständiger gegenseitiger Duldung«, wie sie sich in der Stufe V mit ihrer geringsten Gefährlichkeit verkörperte? Lernte das Myxomatosevirus, seinen Wirt am Leben zu lassen?
Die Antwort lautete Nein. Wie Fenner und seine Partner herausfanden, überwogen zehn Jahre später Viren der Stufe III. Sie sorgten bei den Kaninchen immer noch für eine Sterblichkeit von mehr als 70 Prozent und waren in mehr als der Hälfte der gesammelten Proben enthalten. Der tödlichste Stamm (Stufe I ) war dagegen nahezu verschwunden, und der ungefährlichste Stamm (Stufe V ) war nach wie vor selten. Anscheinend hatte sich die Lage stabilisiert.
Aber stimmt das wirklich? Zehn Jahre sind selbst für Organismen wie Viren und Kaninchen, die sich schnell fortpflanzen, nach den Zeitmaßstäben der Evolution nur ein Augenblick. Also beobachtete Frank Fenner weiter.
Nach noch einmal zwanzig Jahren beobachtete er einen bedeutsamen Wandel. Im Jahr 1980 machte die Myxomatose der Stufe III nicht mehr nur die Hälfte, sondern zwei Drittel aller Stichproben aus. Dieser sehr tödliche, aber nicht immer tödliche Erreger gedieh in freier Wildbahn und war also ein evolutionärer Erfolg. Der schwächste Stamm, die Stufe V, war verschwunden. Er hatte der Konkurrenz nicht standgehalten. Aus irgendeinem Grund war er offenbar in der darwinistischen Prüfung durchgefallen – wer nicht geeignet ist, überlebt nicht.
Wie ist dieser unerwartete Befund zu erklären? Frank Fenner äußerte die scharfsinnige Vermutung, dass es an der Dynamik zwischen Virulenz und Übertragung liegen könnte. In seinen Tests der verschiedenen Erregerstufen hatte er Kaninchen und Stechmücken benutzt, die im Labor gehalten wurden. Dabei hatte sich herausgestellt, dass die Übertragungseffizienz im Zusammenhang mit der Virusmenge steht, die sich auf der Haut eines Kaninchens befindet. Mehr oder länger anhaltende Hautschäden führen zu einer größeren verfügbaren Virusmenge. Dann blieben mehr Viren auf den Mundwerkzeugen der Stechmücken hängen, und damit wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf das nächste Kaninchen übertragen wurden. »Verfügbare Viren« konnten aber nur existieren, wenn das Kaninchen noch am Leben war, wenn warmes Blut in ihm kreiste und es deshalb für den Vektor noch interessant war. Tote, kalte Kaninchen locken keine Stechmücken an. Zwischen den beiden extremen Folgen der Infektion – genesene Kaninchen und tote Kaninchen – fand Fenner einen Gleichgewichtspunkt.
»Wie sich in Laborexperimenten gezeigt hat, erzeugten alle im Freiland gesammelten Stämme ausreichend große Hautschäden, so dass die Virusübertragung stattfinden konnte«, schrieb er. 113 Die Stämme mit sehr hoher Virulenz (Stufe I und II ) töteten die Kaninchen aber »so schnell, dass die infektiösen Hautschäden nur wenige Tage zur Verfügung standen«. Die von den schwächeren Stämmen (Stufe IV und V ) erzeugten Schäden dagegen, so fügte er hinzu, heilten schnell – und dann folgte die wichtige Erkenntnis: »Stämme mit Virulenz der Stufe III waren während der gesamten Lebenszeit der Kaninchen, die am Ende starben, höchst infektiös, und noch viel länger bei denen, die überlebten.« Zu dieser Zeit starben an der Stufe III immer noch rund 67 Prozent der Kaninchen, die damit in Berührung kamen. Das Myxomatosevirus hatte dreißig Jahre nach seiner Einführung das optimale – und sehr hohe – Virulenzniveau gefunden, mit dem eine maximale Übertragung sichergestellt war. Nach wie vor starben die meisten infizierten Kaninchen an dem Erreger, gleichzeitig sicherte er sich aber auch mit einer ununterbrochenen Infektionskette das Überleben.
Wie lautet demnach das oberste Gebot für einen erfolgreichen Parasiten? Der Erfolg der Myxomatose in Australien lässt auf eine Antwort schließen, die anders ausfällt als die zuvor erwähnte Schulweisheit. Sie lautet nicht »Bringe deinen Wirt nicht um«, sondern »Brich die Brücken nicht ab, bevor du sie überquert hast«.
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Das ungesunde Mittelmaß
Wer stellt solche Gebote auf? Wer nicht gerade Kreationist ist, kennt vermutlich die Antwort: niemand. Und woher kommen sie? Aus der Evolution. Es sind Strategien der Lebensgeschichte, die vom Meißel der Evolution aus dem größeren Universum der Möglichkeiten herausgeschlagen werden. Sie bleiben erhalten, weil sie
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