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Spillover

Spillover

Titel: Spillover Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Quammen
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114 , mit der man den Verlauf einer Infektionskrankheit in einer Population verstehen (und voraussagen) kann.
    »Daraufhin haben sich plötzlich eine ganze Menge Ökologen für das Phänomen interessiert«, erzählte mir Les Real von der Emory University, ein führender Vertreter des Fachgebietes, dessen Untersuchungen zur Ebola-Erkrankung von Gorillas ich bereits erwähnt habe. »Ökologen, die in der Populationsökologie nach neuen Fragestellungen suchten, interessierten sich plötzlich für Infektionskrankheiten.« Im Nachsatz schränkt Les seine Aussage allerdings ein: Natürlich hätten May und Anderson die ökologische Betrachtungsweise für Krankheiten nicht erfunden. Sie sei bereits seit langer Zeit bekannt, mindestens seit Macfarlane Burnet. Neu war etwas anderes. »Bob und Roy haben es auf eine mathematische Grundlage gestellt, und das auf höchst interessante Weise.«
    Mathematik ist oftmals zwar präzise, aber auch langweilig. Sie kann kunstvoll ausgearbeitet, tadellos und raffiniert sein, und doch ist sie gleichzeitig dumm und nutzlos. Die mathematischen Überlegungen von Anderson und May jedoch waren alles andere als nutzlos. Sie waren elegant und provokativ. Wer mir das nicht glaubt, der sollte in diesem Punkt auf Les Real vertrauen. Oder man befragt den Science Citation Index , den maßgeblichen Rangmesser für wissenschaftlichen Einfluss, und sieht dort nach, wie häufig die Artikel von Anderson und May von anderen Wissenschaftlern im Laufe der Jahre zitiert wurden.
    Einige dieser Artikel erschienen in altehrwürdigen Zeitschriften wie Nature, Science oder den Philosophical Transactions of the Royal Society of London . Mein Lieblingsaufsatz wurde in Parasitology gedruckt, einem stärker spezialisierten Fachblatt. Er erschien 1982 und trug den Titel »Coevolution of Hosts and Parasites« (»Koevolution von Wirten und Parasiten«). Darin werden anfangs »nicht belegte Behauptungen« in medizinischen und ökologischen Lehrbüchern kritisiert, »dass ›erfolgreiche‹ Parasitenarten im Laufe der Evolution für ihre Wirte ungefährlich werden«. 115 Das, so erklären Anderson und May, sei völliger Unsinn. In Wirklichkeit ist die Virulenz eines Parasiten »in der Regel mit der Übertragungsrate und mit der erforderlichen Genesungszeit für jene Wirte gekoppelt, für die die Infektion nicht tödlich ist«. Übertragungsrate und Genesungszeit sind zwei der Variablen, die Anderson und May in ihr Modell aufnahmen. Darüber hinaus nennen sie drei weitere: die Virulenz (definiert als Zahl der von dem infektiösen Erreger verursachten Todesfälle), Todesfälle aus allen anderen Ursachen und die sich ständig wandelnde Populationsgröße der Wirtsspezies. Das beste Maß für den Evolutionserfolg ist nach ihren Erkenntnissen die Basisreproduktionszahl der Infektion – das heißt der grundlegende Parameter R 0 .
    Sie hatten also fünf wichtige Variablen und wollten nun verstehen, wie diese zusammenwirken. Sie wollten die Dynamik nachverfolgen. Dabei gelangten sie zu einer einfachen Gleichung. Bereit? Keine Angst, es tut nicht weh:
    R 0 = β N /( α + b + ν )
    In Worten: Der Evolutionserfolg eines Erregers ist direkt proportional zu seiner Übertragungsrate in der Wirtspopulation und umgekehrt proportional zu seiner tödlichen Wirkung, der Genesungsrate und der normalen Sterblichkeit aus allen anderen Ursachen. (Die Schwierigkeit, solche Sachverhalte in einfache Sätze zu kleiden, ist der Grund, warum Ökologen die Mathematik bevorzugen.) Die oberste Regel für einen erfolgreichen Parasiten ist also etwas komplizierter als »Bringe deinen Wirt nicht um«, aber auch komplizierter als der Satz »Brich die Brücken nicht ab, bevor du sie überquert hast«.
    Dass der 1982 erschienene Artikel von Anderson und May so nachhaltig wirkte, hatte noch einen zweiten Grund: Er behandelt die Myxomatose der australischen Kaninchen. Mit anderen Worten: Die Autoren wandten ihr Modell auf einen konkreten Fall an und konnten so die Theorie anhand der Tatsachen überprüfen. Sie beschreiben Frank Fenners fünf Abstufungen der Virulenz. Sie begrüßen seinen methodischen Ansatz, die Untersuchung von Stichproben aus dem Freiland mit Laborexperimenten zu kombinieren. Sie erwähnen die Stechmücken und die offenen Hautschäden. Dann stellen sie mit Fenners Daten und ihrer Gleichung einen Zusammenhang zwischen Virulenz und Erfolg eines Erregers her. Das Ergebnis ist eine aus dem Modell hervorgegangene Voraussage: Bei dieser

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