Spillover
funktionieren. Das Prinzip findet man schon bei Darwin: Abstammung mit Abwandlung, natürlicher Selektion, Anpassung. Wenn überhaupt, ist dabei nur eines überraschend: Viren machen genauso eine Evolution durch wie Organismen, die zweifelsfrei lebendig sind.
Ungefähr zu der Zeit, als Frank Fenner seinen Dreißig-Jahres-Rückblick auf die Myxomatose veröffentlichte, entwickelten zwei andere Wissenschaftler, Roy Anderson und Robert May, ein theoretisches Modell für die Wechselbeziehungen zwischen Parasit und Wirt. Dazu bedienten sie sich der Mathematik.
Roy M. Anderson ist Parasitenforscher und Ökologe mit mathematischen Neigungen; er arbeitete damals am Londoner Imperial College. Seine Doktorarbeit schrieb er über Plattwürmer, die Brassen infizieren. Robert M. May ist Australier wie Frank Fenner und Macfarlane Burnet, aber wieder ein ganz anderer Typ. Er machte seinen Doktor in theoretischer Physik, ging dann an die Harvard University, um angewandte Mathematik zu unterrichten, und irgendwo auf diesem Weg wuchs sein Interesse an der Populationsdynamik von Tieren. Stark beeinflusst wurde er von dem herausragenden Ökologen Robert MacArthur, der damals an der Princeton University tätig war und in das ökologische Denken ein neues Niveau der mathematischen Abstraktion und Manipulation eingeführt hatte. MacArthur starb 1972 in jungen Jahren. May wurde als sein Nachfolger nach Princeton berufen, wurde Professor für Zoologie und beschäftigte sich weiterhin mit der Anwendung mathematischer Methoden auf die theoretische Ökologie.
Ihre gemeinsamen Interessen (Ökologie, Mathematik, Plattwürmer) und ihre einander ergänzenden Stärken brachten Robert May und Roy Anderson als Team zusammen. 1978 präsentierten sie die erste Version ihres Krankheitsmodells. In den folgenden zwölf Jahren verfeinerten sie es und bearbeiteten verwandte Themen in einer Reihe von Aufsätzen, die bei aller sprachlichen Verständlichkeit mit Mathematik gespickt waren und bei anderen Wissenschaftlern allgemein großen Eindruck machten. Im Jahr 1991 schließlich fassten sie das alles und mehr in einem dicken Band mit dem Titel Infectious Diseases of Humans zusammen. Dabei bauten sie auf dem Konzept auf, das in der Krankheitstheorie schon seit sechzig Jahren im Gebrauch war, dem SIR -Modell. Zur Erinnerung: Es beschreibt, wie sich der Anteil der Individuen in den drei Kategorien »anfällig« ( S ), »infiziert« ( I ), »genesen« ( R ) im Verlauf einer Epidemie verändert. Anderson und May verbesserten das SIR -Modell in mehrfacher Hinsicht, dabei wurde es komplizierter und realistischer. Die wichtigste Verfeinerung betraf einen grundlegenden Parameter: die Populationsgröße der Wirtsorganismen.
Nahezu alle anderen Krankheitstheoretiker, unter ihnen Ronald Ross 1916, Kermack und McKendrick 1927 und George MacDonald 1956, waren von einer konstanten Populationsgröße ausgegangen. Das machte die mathematischen Berechnungen einfacher, und es schien eine praktische Abkürzung für den Umgang mit wirklichen Situationen zu sein. Ein Beispiel: Wenn eine Stadt 200000 Einwohner hat und von Masern betroffen ist, beträgt die Gesamtzahl der anfälligen, infizierten und genesenen Menschen im Laufe der Epidemie immer noch 200000. Man setzt also voraus, dass die Population von ihrem Wesen her stabil ist, weil Geburten und Todesfälle sich ausgleichen, und dass diese Stabilität trotz der Epidemie erhalten bleibt. Von einer solchen Annahme waren die Epidemiologen und andere Mediziner allgemein ausgegangen, selbst wenn sie mathematische Neigungen hatten.
Anderson und May hielten einen solchen Ansatz für zu einfach und zu statisch. Sie kamen aus der Ökologie, wo sich Populationsgrößen immer auf komplexe Weise und mit schwerwiegenden Folgen verändern. Deshalb schlugen sie vor, die Populationsgröße als dynamische Variable zu behandeln. Sie wollten nicht länger von einer künstlichen, inneren Stabilität ausgehen, sondern berücksichtigen, dass auch eine Krankheitsepidemie selbst Auswirkungen auf die Populationsgröße haben kann, beispielsweise weil ein großer Teil der Bevölkerung daran stirbt oder weil bestimmte Umstände (wie die Überfüllung von Krankenhäusern) dazu führen, dass die Sterblichkeit aus anderen Gründen ansteigt. Vielleicht wirken auch alle drei Faktoren und noch weitere zusammen. Anderson und May schrieben, es sei ihr Ziel, den medizinischen und den ökologischen Ansatz zu einer einzigen, praktischen Methode zu »verweben«
Weitere Kostenlose Bücher