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Spillover

Spillover

Titel: Spillover Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Quammen
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Evolutionsvergangenheit der beiden Partner aus.
    Aber was? An dieser Stelle wird es schwierig. Die meisten von uns haben im Zusammenhang mit der Virulenz schon einmal eine alte Kamelle gehört: Die erste Regel für einen erfolgreichen Parasiten lautet: Du darfst deinen Wirt nicht umbringen. Ein Medizinhistoriker verfolgte diesen Gedanken bis zu Louis Pasteur zurück und stellte fest, der »leistungsfähigste« Parasit sei nach Pasteurs Ansicht derjenige, der »in Harmonie mit seinem Wirt lebt«; demnach, so Pasteur, solle man latente Infektionen als »Idealform des Parasitismus« betrachten. 105 So sah das auch Hans Zinsser. Nach seiner Beobachtung führt die langjährige Verbindung zwischen einer Parasiten- und einer Wirtsspezies durch evolutionäre Anpassung zu »einer vollständigeren gegenseitigen Duldung zwischen Eindringling und Überfallenem«. 106 Und Macfarlane Burnet war der gleichen Ansicht:
    Allgemein kann man sagen: Wenn zwei Organismen eine Wirt-Parasit-Beziehung entwickelt haben, dient es dem Überleben der Parasitenspezies am besten, wenn der Wirt nicht zerstört wird, sondern wenn sich ein Gleichgewichtszustand einstellt, in dem von der Substanz des Wirtes gerade so viel verzehrt wird, dass der Parasit wachsen und sich vermehren kann, aber nicht so viel, dass der Wirt getötet wird. 107
    Das erscheint auf den ersten Blick logisch und wird häufig als Dogma vertreten – zumindest von Leuten, die sich nicht gerade mit der Evolution von Parasiten beschäftigen. Aber selbst Zinsser und Burnet muss man lassen, dass sie sich absicherten, als sie diese Idee vertraten. Offensichtlich hatten sie bereits erkannt, dass es sich bei der »Regel« nur um eine allgemeine Aussage handelt, die wichtige, aufschlussreiche Ausnahmen hat. Manche sehr erfolgreichen Viren bringen ihren Wirt um. Man kennt Sterblichkeitsraten von 99 Prozent, die auch längere Zeit auf diesem Niveau bleiben. Ein Musterbeispiel ist das Tollwutvirus oder HIV -1. Von Bedeutung ist weniger die Frage, ob ein Virus seinen Wirt umbringt, als vielmehr wann .
    »Ein Krankheitserreger, der seinen Wirt schnell tötet, ruft für sich selbst ebenfalls eine Überlebenskrise hervor, da dann oft und rasch genug ein neuer Weg gefunden werden muss, um die eigene Generationenfolge zu erhalten«, schreibt der Historiker William McNeill in seinem maßgeblichen, 1976 erstmals erschienenen Buch Plagues and People (dt. Die großen Epidemien ). 108 Damit hatte er recht; das entscheidende Schlüsselwort in seiner Aussage lautet »schnell«. Der Zeitpunkt ist alles. Ein Krankheitserreger, der seinen Wirt langsam, aber unausweichlich tötet, steht keiner solchen Krise gegenüber.
    Wo liegt das Gleichgewicht in diesem dynamischen Wechselspiel zwischen Übertragung und Virulenz? Das ist von Fall zu Fall verschieden. Ein Virus kann langfristig guten Erfolg haben, obwohl es jeden einzelnen infizierten Organismus tötet; dazu muss es ihm nur gelingen, vor dem Tod seines Wirtes auf einen anderen überzugehen. Zu diesem Zweck reist das Tollwutvirus im Gehirn eines infizierten Tieres – meist ein Hund, ein Fuchs, ein Stinktier oder ein anderer Fleischfresser mit scharfen Zähnen – und verursacht aggressive Verhaltensänderungen. Diese Veränderungen veranlassen das infizierte Tier, besonders heftig zuzubeißen. Währenddessen ist das Virus auch in die Speicheldrüsen gewandert und wird selbst dann auf das gebissene Opfer übertragen, wenn der ursprüngliche Wirt am Ende stirbt oder erschossen wird.
    Die Tollwut tritt manchmal auch bei Rindern und Pferden auf, aber davon hört man kaum etwas – vermutlich weil Pflanzenfresser die Infektion nicht so leicht mit einem wütenden Biss weitergeben. Eine tollwütige Kuh stößt vielleicht ein herzzerreißendes Muhen aus und rennt gegen eine Mauer, aber sie kann nicht ohne weiteres eine Dorfstraße entlanglaufen, knurren und Passanten anfallen. Aus Ostafrika hört man hin und wieder Berichte über Tollwutfälle bei Kamelen, und die sind wegen der berüchtigten Beißfreude der Dromedare für die Viehzüchter, die sie halten, besonders unangenehm. Kürzlich sprach eine Meldung aus dem Grenzgebiet im Nordosten Ugandas von einem tollwütigen Kamel, das verrücktspielte und »auf und ab sprang und andere Tiere biss, bevor es starb«. 109 Selbst ein Mensch, der sich im Endstadium einer Tollwutinfektion befindet, gibt das Virus unter Umständen mit einem Biss weiter. Bestätigt wurden solche Fälle nach Angaben der WHO zwar nie, aber

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