Spillover
konkurrierten; die Australier mussten unbedingt etwas unternehmen.
Im selben Jahr genehmigte die Regierung die Einfuhr von Myxomatoseviren aus Brasilien; dabei handelt es sich um eine Art von Pockenviren, die brasilianische Kaninchen bekanntermaßen infizierten, ihnen aber keinen großen Schaden zufügten. In seiner Heimat und in seinen gewohnten Wirtstieren verursachte das Virus geringfügige Hautschäden, die klein blieben oder nach und nach abheilten. Aber das brasilianische Kaninchen ist ein amerikanisches Tier und gehört zu einer amerikanischen Gattung ( Sylvilagus ); Forschungsarbeiten ließen darauf schließen, dass europäische Kaninchen von diesem amerikanischen Krankheitserreger stärker angegriffen wurden.
Tatsächlich erwies sich die Myxomatose für die europäischen Kaninchen in Australien als echte Seuche: Zumindest während der ersten Epidemie starben rund 99,6 Prozent der infizierten Tiere. Auch bei ihnen verursachte der Erreger Hautschäden – aber nicht nur kleine wunde Stellen, sondern große Geschwüre, und nicht nur auf der Haut, sondern in allen Organen; sie waren so schwerwiegend, dass ein Tier in weniger als zwei Wochen daran starb. Für die Verbreitung unter den Kaninchen sorgten vor allem Stechmücken, von denen es in Australien mehr als genug gibt und die nicht zögerten, ihren Blutdurst auch an einer neuen Säugetierart zu stillen. Die Virusübertragung war offenbar kein biologischer Prozess, sondern ausschließlich mechanischer Natur, das heißt, Virionen wurden an den Mundwerkzeugen der Mücken weitertransportiert, vermehrten sich aber nicht im Verdauungstrakt oder in den Speicheldrüsen der Insekten. Doch auch diese primitive Form der Übertragung ist in manchen Fällen wirkungsvoll.
Nachdem man die Viren mehrmals versuchsweise freigesetzt hatte, setzte sich die Myxomatose im Tal des Murray River fest und verursachte dort eine »spektakuläre Epizoonose«; was Geschwindigkeit und Umfang anging, hatte sie »in der Geschichte der Infektionskrankheiten nahezu keine Parallele«. 112 Stechmücken und Wind verbreiteten das Virus im Nu. Zu Tausenden stapelten sich nun tote Kaninchen in Victoria, New South Wales und Queensland. Darüber waren – mit Ausnahme von Häschenfreunden und Händlern von Billigpelzen – eigentlich alle froh. Aber innerhalb von zehn Jahren geschah zweierlei: Das Virus wurde weniger virulent, und die überlebenden Kaninchen wurden resistenter. Die Sterblichkeit ging zurück, und die Kaninchenpopulation wuchs wieder an. Das ist die kurze, simple Version der Geschichte mit der einfachen Lehre: Evolution verringert die Virulenz und tendiert zur »vollständigen gegenseitigen Duldung« zwischen Erreger und Wirt.
Allerdings stimmt das nicht ganz. Die wahre Geschichte lässt sich aus den sorgfältigen experimentellen Arbeiten des australischen Mikrobiologen Frank Fenner und seiner Kollegen ableiten. Danach nahm die Virulenz von ihrem extremen Anfangswert – mehr als 99 Prozent – schnell ab und stabilisierte sich dann auf einem niedrigeren Niveau, das aber immer noch sehr hoch war. Würden Sie eine Sterblichkeit von »nur« 90 Prozent als gegenseitige Duldung bezeichnen? Ich jedenfalls nicht. Die Sterblichkeit ist immer noch genauso hoch wie die, die im schlimmsten Fall bei einer Ebola-Epidemie in einem kongolesischen Dorf auftritt. Aber genau das stellte Fenner fest. Um die Veränderung der Virulenz zu beobachten, sammelten er und seine Mitarbeiter in freier Wildbahn Virusproben, testeten sie an unbelasteten, gesunden Kaninchen und verglichen verschiedene Proben miteinander. Dabei entdeckten sie eine große Vielfalt verschiedener Erregerstämme, die sie zu Analysezwecken auf einer abnehmenden Sterblichkeitsskala in fünf verschiedene Abstufungen der australischen Myxomatose einordneten. Stufe I war der ursprüngliche Stamm mit seiner Sterblichkeit von nahezu 100 Prozent. An Erregern der Stufe II starben bis zu 95 Prozent, an solchen der mittleren Kategorie III zwischen 70 und 95 Prozent. Stufe IV war noch schwächer, und an Erregern der Stufe V starben weniger als 50 Prozent der infizierten Kaninchen.
Wie hoch waren die Anteile der Erreger dieser fünf Stufen unter den infizierten Kaninchen? Mit Stichproben aus freier Wildbahn, an denen die einzelnen Stufen nachgewiesen und Veränderungen ihrer jeweiligen Anteile verfolgt wurden, wollten Fenner und seine Mitarbeiter einige grundlegende Fragen beantworten. Die wichtigste lautete: Entwickelte sich das Virus stetig in
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