Spillover
Sai Kit Lam (»Ken« Lam für seine englischsprachigen Freunde), der damalige Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universität, erklärte öffentlich, diese Krankheit passe mit so vielen erwachsenen Opfern nicht in das normale Profil der JE . Auch die Sterblichkeit während der jüngsten Epidemie war mit mehr als 54 Prozent ungewöhnlich hoch. Vielleicht handelte es sich ja um einen neuen Stamm des JE -Virus mit veränderten Eigenschaften?
Es könnte sich aber auch um ein ganz anderes Virus mit anderen Verbreitungswegen handeln. Stechmücken als Vektoren passten nicht ins Bild. Welche Mücken stechen fast ausschließlich erwachsene männliche chinesische Schweinehalter?
Zur gleichen Zeit erkrankten in Malaysia die Schweine: Sie litten an einer eigenen epizoonotischen Epidemie irgendeines Erregers. Wieder kam die bekannte Form der Japanischen Enzephalitis als Erklärung nicht infrage, denn Schweine mit einer JE -Infektion weisen in der Regel keine derartigen klinischen Symptome auf. Sie sind für die JE -Erreger nicht nur Reservoir-, sondern auch Verstärkerwirte: Eine steigende Infektionshäufigkeit bei Schweinen lässt auch die Verbreitung des Virus unter den Stechmücken ansteigen, die dann die Menschen stechen. Trächtige Sauen, die mit JE infiziert sind, haben unter Umständen Fehl- oder Totgeburten, aber die Symptome, die man jetzt in Malaysia beobachtete, erzeugt das JE -Virus nicht. Aber die JE -Hypothese krankte noch an weiteren Ungereimtheiten. Die neue Krankheit verursachte bei den Beschäftigten der Schweineindustrie Enzephalitis und andere Störungen des Nervensystems, bei den Schweinen waren jedoch sowohl die Nerven als auch die Atmungsorgane betroffen. Sie schien unter Schweinen sehr ansteckend zu sein und wurde offenbar durch die Luft übertragen. In einem Stall nach dem anderen, zuerst in den großen Betrieben der Region Ipoh, später auch bis hinunter nach Negri Sembilan, fingen die Tiere an, zu zittern, bellend zu husten und erbärmlich zu niesen. Sie brachen zusammen, und in manchen Fällen starben sie.
Unter den Schweinen war die Sterblichkeit jedoch viel geringer als unter Menschen. Die Symptome ließen zunächst auf die sogenannte klassische Schweinepest schließen, eine Virusinfektion. Aber diese Vermutung ließ man schon bald fallen. Die Schweinepest ist keine Zoonose und bot keine Erklärung für die Krankheitswelle unter Menschen. Die Epidemie verbreitete sich wie eine brausende Welle von einer Schweinefarm zur anderen – man konnte sie buchstäblich kommen hören und dann nur voller Angst warten. »Man hat sie den Eine-Meile-Bellhusten genannt«, berichtete ein Gastwissenschaftler aus Australien, »denn sie war schon aus einer Meile Entfernung zu hören. Dann wussten die Leute, dass die Krankheit in ihrer Region angekommen war.« 119 Sie wurde durch das Niesen der Schweine übertragen, reiste aber auch mit dem Lastwagen, wenn Tiere von einer Farm zu anderen transportiert wurden. Und sie übersprang Staatsgrenzen: Als malaysische Schweine Anfang 1999 nach Singapur exportiert wurden, erkrankten dort elf Schlachthofarbeiter. In den ausgezeichneten medizinischen Einrichtungen des Stadtstaates starb nur einer von ihnen.
Immer noch wusste niemand, worum es sich bei dem neuen Erreger handelte. Die Labordiagnostik war in Malaysia zunächst beim Gesundheitsministerium und beim nationalen veterinärmedizinischen Forschungsinstitut in Ipoh durchgeführt worden. Die Wissenschaftler an der University of Malaya und insbesondere in Ken Lams Institut für Medizinische Mikrobiologie verfolgten die Krise genau, aber in aller Stille. Der leitende klinische Virologe des Instituts war Paul Chua. Zu seinem Tätigkeitbereich gehörte das Anlegen von Viruskulturen und Mikroskopie. Salazar Abu Bakar, der molekulare Virologe, analysierte wie Eddie Holmes die Virusgenome und ihren trockenen ACCAAACAAGGG- Code. Eine Zeit lang konnten weder Chua noch Abu Bakar kaum mehr tun als Zeitung lesen, mit Kollegen sprechen und Spekulationen anstellen. Proben von Blut, Gewebe oder Rückenmarksflüssigkeit, das Ausgangsmaterial für die Labordiagnostik, besaßen sie nicht.
Dann plötzlich bekamen sie etwas. Als die Epidemie das nicht weit von der Hauptstadt entfernte Negri Sembilan erreichte, kamen die ersten Patienten an das Klinikum der University of Malaya. Die Kranken wurden behandelt, einige starben, und von drei der Leichen erhielt Paul Chua Probenmaterial. Eines der Opfer war ein 51-jähriger
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