Spillover
Universum der bekannten Viren wie eine leuchtend bunte Pizza dargestellt ist. RNA -Viren besetzen darauf mindestens die Hälfte aller Pizzastücke. Aber wie Eddie weiter erklärt, sind RNA -Viren nicht nur weit verbreitet, sondern auch besonders evolutionsfähig. Sie sind wandlungsfähig. Sie passen sich schnell an.
Dafür gibt es nach seiner Ansicht zwei Gründe. Es liegt nicht allein an der hohen Mutationsrate, sondern auch an ihrer riesigen Populationsgröße. »Zusammengenommen bedeuten diese beiden Tatsachen eine Steigerung der anpassungsorientierten Wandlungsfähigkeit.«
RNA -Viren vermehren sich schnell und erzeugen in jedem Wirtsorganismus eine große Population (das heißt einen hohen Titer) von Virionen. Oder anders ausgedrückt: Sie rufen häufig eine schwere akute Infektion hervor, die aber nur kurz andauert und dann vorüber ist. Entweder verschwinden sie schnell wieder oder sie töten ihren Wirt. Eddie spricht von »einer Art Strohfeuer«. Während der akuten Infektion gibt der Organismus viele Viren ab – beispielsweise durch Niesen, Husten, Erbrechen, Blutungen oder Durchfall. Das erleichtert die Übertragung auf andere Opfer. Solche Viren bemühen sich, schneller zu sein als das Immunsystem des einzelnen Wirtsorganismus: Sie nehmen, was sie bekommen können, und wandern weiter, bevor die körpereigenen Abwehrmechanismen sie vernichten. (Lentiviren wie die HIV s sind in dieser Hinsicht eine Ausnahme; sie verfolgen eine andere Strategie.) Wegen der schnellen Vermehrung und der hohen Mutationsrate liefern sie eine Fülle genetischer Variationen. Die kommen dem Virus sehr zugute, wenn es in einem anderen Wirt landet – möglicherweise sogar in einer anderen Wirtsspezies: Dadurch hat es viele Chancen, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, ganz gleich, wie diese aussehen. In manchen Fällen gelingt die Anpassung nicht, in anderen ist sie sehr erfolgreich.
Die meisten DNA -Viren verkörpern das andere Extrem. Ihre Mutationsrate ist niedrig, und ihre Populationen sind häufig relativ klein. Zur Selbsterhaltung verfolgen sie eine »Abwarten-und-Tee-trinken-Strategie«. Im Verborgenen lauern und abwarten. Sie bemühen sich nicht, das Immunsystem zu besiegen, sondern sie verstecken sich vor ihm. Sie ruhen in bestimmten Zellen, vermehren sich – manchmal über viele Jahre hinweg – kaum oder überhaupt nicht. Ich weiß, dass er über Erreger wie das Varicella-Zoster-Virus spricht, ein klassisches DNA -Virus, das zu Beginn der Infektion bei Menschen die Windpocken auslöst und sich Jahrzehnte später in Form einer Gürtelrose wieder bemerkbar machen kann. Die Kehrseite der Medaille ist nach Eddies Worten für die DNA -Viren, dass sie sich nicht ohne weiteres an eine neue Wirtsspezies anpassen können. Dafür sind sie zu stabil. Unflexibel. Sie verlassen sich auf das, was schon immer funktioniert hat.
Dass DNA -Viren so stabil sind, liegt an der Struktur ihres genetischen Moleküls und der Art seiner Vermehrung, bei der die DNA -Polymerase jeden neuen Strang zusammensetzt und Korrektur liest. Das von den RNA-Viren verwendete Enzym dagegen ist, so Eddie, »fehleranfällig«. »Das ist nur eine ziemlich miese Polymerase«, sagt er. Sie korrigiert nicht, sie blickt nicht zurück, sie ersetzt falsch eingebaute Nucleotidbasen ( A, C, G und U ) nicht. Warum nicht? Weil RNA -Viren winzige Genome haben: Ihre Größe reicht von ungefähr 2000 bis 30000 Nucleotide – viel weniger als das, was die meisten DNA -Viren mit sich herumtragen. »Um ein neues Enzym zu konstruieren, das auch funktioniert, braucht man mehr Nucleotide«, sagt Eddie, das bedeutet ein größeres Genom, mehr Information. Damit meint er ein Enzym, das so präzise arbeitet wie die DNA -Polymerase.
Und warum sind RNA -Genome so klein? Weil ihr Selbstverdoppelungsmechanismus mit so vielen Ungenauigkeiten behaftet ist, dass sich bei einer größeren Informationsmenge mehr Fehler anhäufen würden, und dann würden sie überhaupt nicht mehr funktionieren. Eddie zufolge ist es eine Art Henne-Ei-Problem. RNA -Viren sind auf kleine Genome beschränkt, weil ihre Mutationsrate so hoch ist, und die Mutationsrate ist so hoch, weil sie auf ein kleines Genom beschränkt sind. Für dieses Dilemma gibt es sogar einen Namen: Eigen-Paradox. Der deutsche Chemiker und Nobelpreisträger Manfred Eigen hat sich eingehend mit den chemischen Reaktionen beschäftigt, die zur Selbstorganisation großer Moleküle notwendig sind, also für einen Prozess, der zum Leben
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