Spillover
Stelle, oder sie nehmen ihn mit nach Hause und teilen ihn mit der Familie. Der beste Saft ist rot, süß und durchsichtig. Die natürliche Gärung setzt sehr schnell ein, und nach zehn Uhr morgens, wenn der Saft nicht mehr ganz frisch ist, sinkt sein Preis rapide. Auch Verunreinigungen verringern seinen Wert. Aber die Verunreinigungen haben noch andere Folgen; wir kommen gleich darauf zurück.
Bei den Untersuchungen in Tangail zeigte sich nur ein einziger Unterschied zwischen Erkrankten und Gesunden: Die meisten Infizierten hatten frischen Dattelpalmensaft getrunken. Ihre gesunden Nachbarn hatten dies in ihrer Mehrzahl nicht getan. Das ließ auf einen komplizierten Zusammenhang schließen.
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Der Dattelpalmengürtel
Also fahre ich ans ICDDR,B zu Steve Luby. Der große, hagere Mann mit dem kurzen braunen Haar wirkt ernst, aber nicht wichtigtuerisch. Er hat zunächst Philosophie studiert, sich dann aber der Medizin und Epidemiologie zugewandt und sein Interesse schließlich auf Infektionskrankheiten in armen Ländern gerichtet. In Bangladesch ist er seit 2004, und er kennt das Land recht gut. Er hört ständig von vermeidbaren Todesfällen und bemüht sich darum, so viele wie möglich zu verhindern. Zu einem großen Teil hat er es dabei mit altbekannten, banalen Krankheiten wie Lungenentzündung, Tuberkulose und Durchfall zu tun, an denen viel mehr Menschen sterben als an Nipah. Die bakterielle Lungenentzündung zum Beispiel fordert in Bangladesch unter Kindern unter fünf Jahren jedes Jahr 90000 Opfer. Am bakteriellen Durchfall sterben jedes Jahr rund 20000 Neugeborene. Deshalb frage ich Luby: Warum soll man sich angesichts solcher Zahlen überhaupt um Nipah kümmern?
Aus Vorsicht, erwidert er. Es ist ein klassisches Beispiel für das Sprichwort von den bekannten und den unbekannten Teufeln, die man beide nicht ignorieren darf. Nipah ist wichtig, weil viel mehr geschehen könnte und weil wir kaum etwas darüber wissen, wie es geschehen könnte. »Das ist ein entsetzlicher Erreger«, sagt er und erinnert mich daran, dass die Sterblichkeit unter den Nipah-Erkrankten in Bangladesch bei über 70 Prozent liegt. »Und von denen, die überleben, hat ein Drittel ausgeprägte neurologische Störungen. Das ist eine schlimme Krankheit.« Und, so fügt er hinzu, ungefähr die Hälfte aller Fälle in Bangladesch sind auf die Übertragung von Mensch zu Mensch zurückzuführen, eine Besorgnis erregende Entwicklung, die es während der Nipah-Epidemie in Malaysia noch nicht gegeben hatte.
Warum war die Übertragung von Mensch zu Mensch für manche Epidemien ein wichtiger Faktor, für andere aber nicht? Wie stabil ist das Virus? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich zu einer Form weiterentwickelt, die noch leichter übertragbar ist? Wie ich bereits erwähnt habe, ist Bangladesch ein sehr dicht besiedeltes Land mit ungefähr 1000 Menschen pro Quadratkilometer, und dieser Wert nimmt immer noch zu. Eine solche Bevölkerung, die sich relativ gleichmäßig über eine dicht besiedelte, aber ländliche Region verteilt, wobei die Einkommen niedrig sind und die medizinische Versorgung schlecht ist, übt einen erbarmungslosen Druck auf die letzten Reste der unberührten Landschaft und der wilden Tierwelt aus. Das bedeutet für das Land ein besonders großes Epidemierisiko, sei es durch alte, banale Krankheitserreger oder unbekannte, neue. Deshalb, so Luby, ist Nipah natürlich ein wichtiger Teil seiner Arbeit, auch wenn die Zahl der Betroffenen (bisher) noch klein ist.
Außerdem gibt es nach seinen Worten noch einen anderen Grund. Über dieses Virus weiß niemand in der Welt besonders gut Bescheid. »Wenn wir es nicht in Bangladesch untersuchen, wird es überhaupt nicht untersucht.« In Malaysia hat es eine einzige Epidemie gegeben, in Indien eine im Jahr 2001 und eine weitere in jüngerer Zeit. Bangladesch, so betont er unter Hinweis auf die Zahlen von 2009, hat bereits acht Epidemien in acht Jahren erlebt (und weitere kamen nach meinem Gespräch mit ihm hinzu). Laboruntersuchungen kann man überall anstellen, aber sie geben keine Antwort auf die Frage, wie sich Nipah in der Natur verhält.
Wenn man verstehen will, wie der Erreger von seinem Reservoir auf Menschen überspringt, braucht man einen grundlegenden Bezugspunkt: Man muss die Identität des Reservoirwirts kennen. Aufgrund dessen, was man in Malaysia herausgefunden hatte, und auch aufgrund der parallelen Befunde für Hendra in Australien, fällt der Verdacht
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