Spillover
Virus aber in großen Mengen, und damit kann auch die höhere Infektionsschwelle anderer Tiere überwunden werden.
Nicht alle zoonotischen Erreger brauchen einen Verstärkerwirt, damit sie einen Menschen infizieren können, bei manchen ist dies aber offenbar der Fall. Welche sind das, und wie funktioniert das Ganze? Mit solchen und vielen anderen Fragen beschäftigen sich die Experten. Vorerst ist der Begriff ein hypothetisches Hilfsmittel. Linda Selvey erwähnte das Vorbild der Maul- und Klauenseuche nicht, als sie in unserem Gespräch über das Hendra-Virus den Begriff »Verstärker« in den Mund nahm, aber ich wusste, was sie meinte.
Und dennoch … warum gerade Pferde? Warum nicht Kängurus oder Wombats oder Koalas? Wenn Pferde die Verstärkerrolle spielen sollten, verdient eine alte Tatsache neue Aufmerksamkeit: Pferde sind in Australien ursprünglich nicht heimisch. Sie sind Exoten, die erstmals von europäischen Siedlern vor wenig mehr als 200 Jahren auf den Kontinent gebracht wurden. Nach Hinweisen in seinem Genom zu urteilen (die man mit den Methoden der molekularen Evolutionsforschung entschlüsseln kann), ist Hendra ein altes Virus. Es trennte sich in grauer Vorzeit von seinen Vettern, den Morbilliviren, und dürfte sich schon seit sehr langer Zeit in Australien aufgehalten haben, ohne aufzufallen. Auch Fledertiere sind ein uralter Teil der einheimischen Tierwelt. Fossilien aus Queensland verraten, dass es Fledermäuse hier schon seit mindestens 55 Millionen Jahren gibt, und die Flughunde dürften sich im frühen Miozän vor etwa 20 Millionen Jahren entwickelt haben. Menschen leben hier erst seit einigen Zehntausend Jahren – seit die Vorfahren der australischen Ureinwohner in einfachen Holzbooten mit einer wagemutigen Reise von Insel zu Insel den Weg von Südostasien über das südchinesische Meer und die Kleinen Sundainseln in den Nordwesten des Kontinents fanden. Das geschah vor mindestens 40000 Jahren, vielleicht aber auch schon viel früher. Drei der vier Hauptbeteiligten der komplizierten Wechselbeziehung – Flughunde, Hendra-Viren und Menschen – leben also vermutlich schon seit der Eiszeit in Australien zusammen. Die Pferde kamen im Januar 1788 hinzu.
Im Vergleich zu allem, was noch folgen sollte, war es eine kleine Veränderung der Landschaft. Die ersten Pferde kamen mit jener Flotte von elf Schiffen, die unter dem Kommando von Captain Arthur Phillip die britischen Inseln verlassen hatte, um in New South Wales eine Sträflingskolonie einzurichten. Zwar hatte James Cook das Land »entdeckt«, aber Phillip brachte die ersten europäischen Siedler. In einem Naturhafen nicht weit vom heutigen Sydney setzten seine Gefängnisschiffe 736 Verurteilte, 74 Schweine, 29 Schafe, 19 Ziegen, fünf Kaninchen und neun Pferde an Land. Bei den Pferden handelte es sich um zwei Hengste, vier Stuten und drei Fohlen. Bis zu diesem Tag hatte es allen fossilen oder historischen Belegen zufolge in Australien keine Angehörigen der Gattung Equus gegeben. Ebenso wenig existierten bei den australischen Ureinwohnern mündliche Überlieferungen über Epidemien durch das Hendra-Virus (oder zumindest keine, von der die Welt erfahren hätte).
Am 27. Januar 1788 waren dann eigentlich alle Voraussetzungen gegeben: das Virus, die Reservoirwirte, der Verstärkerwirt und anfällige Menschen. Aber jetzt stehen wir vor einem neuen Rätsel. Zwischen den Pferden des Captain Arthur Phillip und den Pferden eines Vic Rail klafft eine zeitliche Lücke von 206 Jahren. Warum wartete das Virus so lange, bis es sich zeigte? Oder war es bereits zuvor – vielleicht sogar viele Male – aufgetreten und nie als solches erkannt worden? Wie viele frühere Hendra-Infektionen waren im Laufe von mindestens zwei Jahrhunderten fälschlich als Schlangenbisse diagnostiziert worden?
Die Antwort der Wissenschaftler: Wir wissen es nicht, aber wir arbeiten daran.
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Neue Infektionskrankheiten
Im Jahr 1994 war das Hendra-Virus nur ein Schlag in einem ganzen Trommelwirbel schlechter Nachrichten. Dieser Wirbel ist im Laufe der letzten fünfzig Jahre immer lauter und eindringlicher geworden. Wann und wo fing sie an, diese moderne Ära der neuen zoonotischen Krankheiten?
Auch wenn es etwas gewollt erscheint, sich auf einen bestimmten Zeitpunkt festzulegen, ein guter Kandidat wäre das Machupo-Virus, das zwischen 1959 und 1963 in Bolivien auftauchte. Anfangs hieß es natürlich nicht Machupo, und man wusste auch noch nicht einmal, dass es sich um ein Virus
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