Spillover
rümpfen die Nase, bei uns nennen wir es einfach »Wild«), Rodung von Wäldern zur Schaffung von Rinderweiden, Abbau von Bodenschätzen, Stadtentwicklung, Zersiedelung, chemische Umweltverschmutzung, Nährstoffeintrag in die Ozeane, nicht nachhaltige Gewinnung von Lebensmitteln aus dem Meer, Klimawandel, internationale Vermarktung der Exportgüter, deren Produktion alle zuvor genannten Maßnahmen erfordert, und andere Eingriffe der »Zivilisation« in die natürliche Landschaft – mit all diesen Mitteln reißen wir die Ökosysteme auseinander. Bis hierher ist das nichts Neues. Den meisten derartigen Tätigkeiten sind die Menschen – mit einfachen Werkzeugen – schon seit sehr langer Zeit nachgegangen. Aber heute, wo sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben und moderne Technik zur Verfügung haben, kommen die Eingriffe in ihrer Gesamtheit an eine kritische Grenze. Die tropischen Regenwälder sind nicht die einzigen bedrohten Ökosysteme, aber sie sind die reichhaltigsten und sie haben die am höchsten entwickelte Struktur. In solchen Ökosystemen leben Millionen Arten von Lebewesen, von denen die meisten der Wissenschaft unbekannt sind; sie sind weder einer Spezies zugeordnet noch überhaupt auch nur identifiziert oder untersucht.
Zweitens gehören zu diesen Millionen unbekannter Lebewesen auch Viren, Bakterien, Pilze, Protisten und andere Organismen, von denen viele als Parasiten leben. Fachleute für Virologie sprechen heute von der »Virosphäre«, einem riesigen Organismenreich, das mit seiner Größe wahrscheinlich alle anderen Gruppen in den Schatten stellt. Die Wälder Zentralafrikas beispielsweise beherbergen viele Virusarten, jede einzelne davon parasitiert in einer bestimmten Bakterien-, Tier-, Pilz-, Protisten- oder Pflanzenart, und alle sind in ökologische Beziehungen eingebettet, die ihre Zahl und ihre geographische Verbreitung einschränken. Ebola, Marburg, Lassa, Affenpocken und die Vorläufer der menschlichen Immunschwächeviren bilden nur einen winzigen Ausschnitt der unzähligen anderen, bisher noch nicht entdeckten Viren, die ihrerseits in vielfach noch nicht entdeckten Wirten zu Hause sind. Viren können sich nur in den lebenden Zellen eines anderen Organismus vermehren. In der Regel bewohnen sie eine Tier- oder Pflanzenart, mit der sie eine enge, uralte und häufig (aber nicht immer) beiderseits nützliche Beziehung verbindet. Das heißt, sie sind abhängig, aber gutartig. Sie leben nicht eigenständig. Sie erzeugen keine Unruhe. Hin und wieder töten sie vielleicht ein paar Affen oder Vögel, aber deren Kadaver werden vom Wald schnell aufgenommen. Wir Menschen bemerken davon nur in seltenen Fällen etwas.
Und drittens sieht es so aus, als würde die Zerstörung der natürlichen Ökosysteme dazu führen, dass solche Mikroorganismen immer häufiger in ein größeres Umfeld freigesetzt werden. Wenn Bäume gefällt und die darin lebenden Tiere abgeschlachtet werden, fliegen die zugehörigen Erreger davon wie der Staub aus den Überresten eines abgerissenen Lagerhauses. Ein mikroskopisch kleiner Parasit, der auf diese Weise verdrängt, vertrieben und seines gewohnten Wirtes beraubt wird, hat zwei Möglichkeiten: Entweder er findet einen neuen Wirt – eine neue Art von Wirten –, oder er stirbt aus. Er hat es nicht gezielt auf uns abgesehen. Wir sind nur so aufdringlich und stehen in so großer Zahl zur Verfügung. »Wenn man die Welt aus der Perspektive eines hungrigen Virus oder auch eines Bakteriums betrachtet«, bemerkte der Historiker William H. McNeill, »stellen wir ein großartiges Nahrungsangebot dar: Milliarden menschliche Körper auf einer Fläche, auf der es bis in die jüngste Vergangenheit nur halb so viele gab. In 25 oder 27 Jahren hat sich unsere Zahl verdoppelt. Ein hervorragendes Ziel für jeden Organismus, der sich entsprechend anpassen und in uns eindringen kann.« 5 Viren – insbesondere die, deren Genom nicht aus DNA , sondern aus RNA besteht und deshalb stärker zu Mutationen neigt – können sich sehr gut und sehr schnell anpassen.
Alle diese Faktoren haben nicht nur neue Infektionskrankheiten und dramatische kleine Krankheitswellen entstehen lassen, sondern auch neue Epidemien und Pandemien. Die grausamste, katastrophalste und berüchtigtste wird von einer Viren-Abstammungslinie hervorgerufen, die unter Wissenschaftlern als HIV -1-Gruppe M bekannt ist. Das ist der HIV -Typ, der für den größten Teil der weltweiten AIDS -Pandemie verantwortlich ist. Seit die
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