Spillover
in anderen Ländern zahlreiche Blutproben. Diese waren mit einem Code markiert und wurden im Labor blind getestet, das heißt, Kanki selbst kannte weder das Herkunftsland noch wusste sie, ob die Proben von Menschen oder Affen stammten. Sie unterzog das Material den Tests auf SIV und HIV . Trotz eines möglichen Missgeschicks mit einer Laborverunreinigung fand die Arbeitsgruppe, worauf sie gehofft hatte: ein Virus, das ein Mittelding zwischen HIV und SIV war. Als der Code eröffnet wurde, erfuhr Kanki, dass die fraglichen Proben von Prostituierten aus dem Senegal stammten. Im Rückblick erscheint das plausibel. Prostituierte sind durch alle sexuell übertragbaren Viren stark gefährdet, auch durch einen neuen Erreger, der gerade auf Menschen übergesprungen ist. Und angesichts der Bevölkerungsdichte in den ländlichen Gebieten im Senegal, wo auch die Grünen Meerkatzen heimisch sind, kommt es relativ häufig zu Interaktionen zwischen Affen und Menschen (beispielsweise weil die Affen sich über Nutzpflanzen hermachen und von Menschen gejagt werden).
Darüber hinaus stand der neue Erreger aus den senegalesischen Prostituierten nicht auf halbem Weg zwischen HIV und SIV . Er ähnelte den SIV -Stämmen aus den Grünen Meerkatzen stärker als der Montagnier-Gallo-Form von HIV . Das war ein wichtiger, aber auch rätselhafter Befund. Gab es zwei verschiedene Formen von HIV ?
Hier kommt erneut Luc Montagnier ins Spiel. Nachdem er sich mit Gallo über die erste HIV -Entdeckung gestritten hatte, ging es dieses Mal zwischen ihm, Essex und Kanki liebenswürdiger zu. Mit Testverfahren, die das Team aus der Harvard University beisteuerte, untersuchten Montagnier und seine Kollegen das Blut eines 29-jährigen Mannes aus dem winzigen Guinea-Bissau, einer früheren portugiesischen Kolonie, die südlich an den Senegal angrenzt. Dieser Mann hatte Symptome von AIDS (Durchfall, Gewichtsverlust, geschwollene Lymphknoten), war aber im HIV -Test negativ. Er kam in Portugal in ein Krankenhaus, und seine Blutprobe wurde von einem portugiesischen Biologen, der zu Besuch kam, persönlich bei Montagnier abgegeben. In Montagniers Institut war das Blutserum des Mannes wiederum negativ im Test auf HIV -Antikörper. Aus einer Kultur seiner weißen Blutzellen konnte die Arbeitsgruppe aber ein neues menschliches Retrovirus isolieren, das dem von Essex und Kanki gefundenen Erreger ähnelte. Bei einem anderen Patienten, der in Paris ins Krankenhaus kam, ursprünglich aber aus dem Inselstaat Kap Verde vor der Westküste des Senegal stammte, fand das Team weitere Viren des gleichen Typs. Montagnier bezeichnete den neuen Erreger als LAV -2. Als alle Parteien sich auf die Bezeichnung HIV geeinigt hatten, wurde er in HIV -2 umbenannt. Das zuerst gefundene Virus hieß nun HIV -1.
Entdeckungen erfolgen manchmal auf gewundenen Wegen, es gibt viele Namen, und manchmal kann man die Mitspieler kaum im Gedächtnis behalten; aber solche Einzelheiten sind nicht belanglos. Der Unterschied zwischen HIV -2 und HIV -1 ist auch der Unterschied zwischen einer hässlichen kleinen westafrikanischen Krankheit und einer globalen Pandemie.
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Verwirrende Verwandtschaft
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, als Kanki, Essex und andere Wissenschaftler sich mit HIV -2 beschäftigten, herrschte in der Frage seiner Herkunft große Unsicherheit. Manche Fachleute bezweifelten die enge Verwandtschaft mit einem Retrovirus, das afrikanische Affen infiziert (und vor nicht allzu langer Zeit aus diesem hervorgegangen sein sollte). Nach ihrer Ansicht war ein solches Retrovirus in der Abstammungslinie der Menschen schon vorhanden, seit es überhaupt Menschen gibt – oder sogar noch länger. Möglicherweise war es immer bei uns, ein blinder Passagier, der uns durch die Evolution begleitete, seit wir uns von der Linie unserer Primatenvettern abspalteten. Aber diese Annahme warf eine neue Frage auf: Wenn das Virus ein uralter Parasit der Menschen war, den seit Jahrtausenden niemand bemerkt hatte, wie war es dann plötzlich zu einem so gefährlichen Krankheitserreger geworden?
Dass der Übersprung erst vor Kurzem stattgefunden hatte, erschien wahrscheinlicher. Die Gegenseite erhielt aber Auftrieb, als ein japanisches Wissenschaftlerteam 1988 das vollständige Genom von SIV aus einer Grünen Meerkatze sequenzierte. Das Tier stammte aus Kenia. Wie sich herausstellte, war die Nucleotidsequenz seines Retrovirus deutlich anders als die von HIV -1, und ungefähr in gleichem Umfang unterschied
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