Spillover
könne neues Licht in die Mechanismen der Krankheit bringen und vielleicht sogar bei der Entwicklung eines Impfstoffes helfen, weil nun ein Tiermodell für die Forschung zur Verfügung stünde. Am Ende des einen Artikels äußern sie wie als Nachbemerkung den Verdacht, SIV könne vielleicht auch einen Anhaltspunkt für den Ursprung von HIV liefern.
Das stimmte. Phyllis Kanki analysierte die Blutproben der gefangenen Makaken und stellte sich dann die Frage, ob das gleiche Virus auch in der Natur vorkommt. Zusammen mit Essex testete sie Blutproben von Tieren, die man in freier Wildbahn gefangen hatte. Sie fanden keine Spur von SIV . Dann testeten sie andere wilde Affen aus Asien. Auch hier kein SIV . Daraufhin vermuteten sie, die Makaken von Southborough könnten sich in der Gefangenschaft mit SIV angesteckt haben, weil sie mit Tieren anderer Arten in Kontakt gekommen waren. Das war eine plausible Vermutung angesichts der Tatsache, dass sich in der Lobby des Primatenzentrums zu jener Zeit ein Affenspielplatz befand, auf dem asiatische und afrikanische Affenbabys manchmal gemeinsam spielten. Aber nun stellte sich die Frage: Welche afrikanische Affenart war das Reservoir? Woher kam das Virus wirklich? Und was hatte es mit dem Auftauchen von HIV zu tun?
»Den offiziellen Meldungen zufolge hatten die USA und Europa 1985 den höchsten Prozentsatz an HIV -Infizierten zu verzeichnen«, schrieben Essex und Kanki später. »Es lagen aber auch beunruhigende Berichte aus Zentralafrika vor, wonach es auch dort – zumindest in einigen städtischen Ballungsgebieten – viele HIV -Infizierte und auch AIDS -Kranke gab.« 143 Nun verschob sich der Brennpunkt des Verdachts: Vielleicht lag der Ursprung nicht in Asien, nicht in Europa und nicht in Amerika, sondern in Afrika. Immerhin war Zentralafrika die Heimat vieler verschiedener Arten nichtmenschlicher Primaten. Also beschaffte sich die Gruppe an der Harvard University das Blut einiger in freier Wildbahn gefangener afrikanischer Affen, darunter Schimpansen, Paviane und Grüne Meerkatzen. Von den Schimpansen und Pavianen zeigte kein einziger Anzeichen einer SIV -Infektion, aber bei einigen Grünen Meerkatzen war sie nachzuweisen. Mehr als zwei Dutzend Affen trugen Antikörper gegen SIV , und aus sieben Tieren konnte Kanki aktive Viren heranzüchten. Auch dieser Befund wurde sofort in Science veröffentlicht, und die Suche ging weiter. Am Ende hatten Kanki und Essex Tausende von Grünen Meerkatzen untersucht, die in verschiedenen Regionen des mittleren und südlichen Afrikas gefangen worden waren oder in Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt lebten. Je nach Population erwiesen sich zwischen 30 und 70 Prozent der Tiere im Test als SIV -positiv.
Aber die Affen waren nicht krank. Offensichtlich litten sie nicht an einer Immunschwäche. Im Gegensatz zu den asiatischen Makaken hatten sich in den afrikanischen Meerkatzen anscheinend »Schutzmechanismen entwickelt, die einen potenziell tödlichen Stamm des Erregers daran hindern, seine verheerende Wirkung zu entfalten«, schrieben Essex und Kanki. Vielleicht hatte sich auch das Virus verändert. »Zusätzlich könnten sich manche SIV -Stämme so weiterentwickelt haben, daß sie mit ihren natürlichen Wirtstieren in friedlicher Koexistenz leben.« 144 Bei den Affen entwickelt sich eine größere Widerstandskraft, bei den Viren entwickelt sich eine geringere Virulenz – eine solche gegenseitige Anpassung wäre ein Hinweis, dass SIV in diesen Tieren schon seit langer Zeit zu Hause war.
Das neue, bei afrikanischen Meerkatzen entdeckte Virus SIV erwies sich als engster bekannter Verwandter von HIV . Aber so eng war die Verwandtschaft dann auch wieder nicht; zwischen den beiden Erregern bestanden auf genetischer Ebene zahlreiche Unterschiede. Essex und Kanki zufolge war die Ähnlichkeit »nicht so groß, dass man SIV mit hoher Wahrscheinlichkeit für den unmittelbaren Vorläufer von HIV bei Menschen halten musste«. 145 Wahrscheinlicher war, dass die beiden Viren benachbarte Zweige an demselben Stammbaum repräsentieren, die durch lange evolutionäre Zeiträume und vielleicht auch durch noch lebende Zwischenformen getrennt sind. Wo könnten diese fehlenden Vettern sein? »Wir glaubten, wir könnten vielleicht ein solches Virus – eine Zwischenform zwischen SIV und HIV – bei Menschen finden.« Sie entschlossen sich, in Westafrika zu suchen.
Mit Unterstützung eines internationalen Kollegenteams sammelten Kanki und Essex im Senegal und
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