Spillover
1931 Eingang in die menschliche Bevölkerung gefunden haben musste.
Zehn Jahre lang, von Zhus Veröffentlichung 1998 bis 2008, stand dieser Befund ganz allein. ZR 59 war die einzige bekannte Form von HIV -1 aus einer Probe, die man vor 1976 entnommen hatte. Dann fand jemand eine zweite. Diese wurde als DRC 60 bekannt, und was die Bezeichnung bedeutet, dürfte nun klar sein: Sie stammte aus der Demokratischen Republik Kongo (gleicher Staat, neuester Name) und war 1960 entnommen worden.
DRC 60 war Biopsiematerial, ein Stückchen eines Lymphknotens, das man einer lebenden Frau entnommen hatte. Wie das Nieren- und Milzgewebe des Seemanns von Manchester war es in ein kleines Stück Paraffin eingebettet. In dieser Form konserviert, braucht es nicht gekühlt und erst recht nicht tiefgefroren zu werden. Es war so inaktiv wie ein toter Schmetterling und viel weniger empfindlich. Man konnte es in einem verstaubten Regal aufbewahren und vergessen – was auch geschehen war. Nach mehr als vierzig Jahren tauchte es in einer Probensammlung der Universität von Kinshasa auf und ermöglichte den AIDS -Forschern wiederum einen Schub neuer Erkenntnisse.
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Kongo 1960
Die Universität von Kinshasa liegt auf einem Hügel an der Stadtgrenze. Man erreicht sie in einer einstündigen Taxifahrt über kaputte Straßen, durch abgasgeschwängerte Vorstädte und ein chaotisches Durcheinander von Lieferwagen, Bussen und Handkarren, vorbei an Straßenhändlern, die Trauerkränze feilbieten, Handy-Aufladestationen, Obstständen, Fleischmärkten, Eisenwarenläden, Reifenreparaturwerkstätten und Baustoffhändlern unter freiem Himmel, vorbei an Haufen von Sand, Schutt und Abfällen. Kinshasa ist eine postkoloniale Metropole, geprägt durch acht Jahrzehnte belgischen Opportunismus, drei Jahrzehnte diktatorischer Misswirtschaft und ungeheuerlicher Bereicherung sowie ein Jahrzehnt des Krieges. Hier leben zehn Millionen Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft, darunter (wie in allen Großstädten) einige gefährliche Halunken, während die meisten anderen liebenswürdig und voller Hoffnung sind. Das Universitätsgelände auf seinem Hügel, der allgemein nur »der Berg« genannt wird, bildet einen vergleichsweise grünen, friedvollen Kontrast zu der Stadt darunter. Hierher kommen die Studenten – sie steigen zu Fuß von einer wimmelnden Bushaltestelle herauf, um zu lernen und der Stadt zu entkommen.
Der Leiter der pathologischen Abteilung im Institut für Anatomische Pathologie der Universität ist Professor Jean-Marie M. Kabongo. Er ist ein kleiner, gut gekleideter Mann mit einem riesigen Kaiser-Wilhelm-Schnauzer und angegrautem Backenbart; aber der martialische äußere Eindruck wird durch sein liebenswürdiges Verhalten abgemildert. Ich treffe ihn in seinem Büro auf der zweiten Etage eines Gebäudes, das einen grasbewachsenen Innenhof mit Schatten spendenden Akazien überblickt. Er bekennt, er wisse über DRC 60 und den Patienten, von dem die Probe stammt, nur unzureichend Bescheid. Schließlich sei es ein alter Fall, der lange vor seine Zeit zurückreiche. Ja, er glaubt, es sei eine Frau gewesen. Seine Erinnerung sei vage, aber er könne in den Akten nachsehen. Als ich meine Fragen stelle, macht er sich Notizen; dann schlägt er vor, ich solle in ein paar Tagen wiederkommen, dann könne er sich besser vorbereiten. Als ich mich aber nach dem Raum erkundige, in dem DRC 60 aufbewahrt wurde, hellt seine Miene sich auf. Ja, natürlich, sagt er, den kann ich Ihnen zeigen.
Er holt einen Schlüssel und schließt eine blaue Tür auf. Als sie sich öffnet, heißt er mich in einem großen, sonnendurchfluteten Labor willkommen. Die Wände sind weiß gefliest, in der Mitte stehen zwei lange, niedrige Tische. Auf einem davon liegt ein altmodisches, großes Inventarbuch mit gewellten Seiten – es sieht aus, als käme es unmittelbar aus einer Kanzlei der Charles-Dickens-Zeit. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes steht auf dem Fensterbrett eine Reihe von Kolben mit Flüssigkeiten in abgestuften Farben von uringelb bis wodkaklar. Die am stärksten gelb gefärbte Flüssigkeit, so erklärt mir Professor Kabongo, ist Methanol. Völlig klar ist Xylol. »Damit präparieren wir die Gewebeproben«, sagt er. Die organischen Lösungsmittel sollen dem Material das Wasser entziehen; die Entwässerung ist eine Voraussetzung, wenn man Gewebe langfristig fixieren will. Das eigentlich ebenfalls wasserklare Methanol ist so dunkel, weil es schon zur
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