Spillover
Verarbeitung zahlreicher Proben benutzt wurde.
Er zeigt mir ein kleines, orangefarbenes Plastikkörbchen mit Klappdeckel; in Größe und Form erinnert es an ein Streichholzbriefchen. Das, so erklärt mir Professor Kabongo, ist eine »Kassette«. Man nimmt ein Stück Gewebe aus einem Lymphknoten oder einem anderen Organ und schließt es in eine solche Kassette ein; dann hängt man das Ganze in den Kolben mit Methanol; von dort durchläuft es nacheinander die verschiedenen Flüssigkeitsbäder, bis es schließlich mit Xylol getränkt wird. Methanol entzieht dem Material das Wasser; Xylol verdrängt das Methanol, und damit ist die Probe für die Konservierung in Paraffin vorbereitet. Und dieses Gerät, sagt Professor Kabongo, wobei er auf eine große Maschine auf einem der Tische zeigt, steuert das Paraffin bei. Man nimmt die entwässerte Gewebeprobe aus der Kassette, und aus diesem Stutzen tropft warmes, flüssiges Paraffin. Auf der Probe kühlt es ab wie ein Tropfen flüssige Butter. Nun entfernt man den Deckel der Kassette und beschriftet den unteren Teil mit einem Code, beispielsweise mit »A90« oder »B71«. Das ist dann das Archivmaterial. »A« bedeutet, dass es aus einer Autopsie stammt, »B« ist die Kennzeichnung für Biopsiematerial. Das Stückchen Lymphknoten, das zu DRC 60 wurde, hätte man also mit »B-sowieso« beschriftet. Die codierten Proben werden in dem großen Buch verzeichnet. Dann wandern sie ins Lager.
»Wo ist das Lager?«, will ich wissen.
Am anderen Ende des Labors befindet sich eine weitere Tür, die dieses Mal nur durch einen blauen Vorhang verschlossen ist. Professor Kabongo schiebt den Stoff beiseite, und ich folge ihm in die Archivkammer, einen schmalen, engen Raum, in dem auf einer Seite Regale und Schränke stehen. In ihnen befinden sich Tausende von verstaubten Paraffinblöcken und alten mikroskopischen Präparaten. Die Paraffinblöcke sind in Kartons gestapelt; manche davon tragen ein Datum, andere nicht. Das Ganze sieht nach organisiertem Chaos aus. Ein Holzstuhl wartet auf eine neugierige, unruhige Seele, die sich auf ihn setzt und in den Proben stöbert. Ich habe zwar nicht vor zu stöbern, aber meine Besichtigungstour ist auf ihrem Höhepunkt angelangt. »Hier?«, frage ich. Ja, erwidert der Professor, genau hier hat DRC 60 jahrzehntelang gelegen. Und er hätte voller Lokalpatriotismus hinzufügen können: bevor es für die AIDS -Forschung zum Stein von Rosetta wurde.
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Verschlungene Wege
Aus der Kammer hinter dem blauen Vorhang war diese Probe zusammen mit Hunderten weiterer auf vielen Umwegen nach Belgien und dann in die Vereinigten Staaten gelangt, wo sie schließlich an der University of Arizona im Labor eines jungen Biologen landeten. Michael Worobey ist Kanadier; sein Spezialgebiet ist die molekulare Phylogenetik. Nach dem Grundstudium ging er mit einem Rhodes-Stipendium nach Oxford; das bedeutet in der Regel zwei Jahre mäßig anstrengende akademische Arbeit sowie eine Menge Tee, Sherry, Rasentennis und vornehme Anglophilie, bevor man zurückkehrt und weiterstudiert oder eine Berufslaufbahn antritt. Worobey machte mehr daraus: Er blieb in Oxford, schloss seine Dissertation ab und arbeitete dann als Postdoc auf dem Gebiet der molekularen Evolutionsbiologie. 2003 kehrte er nach Amerika zurück, nahm eine Stelle als Assistenzprofessor in Arizona an und baute ein B3-Labor auf, in dem er die Genome gefährlicher Viren untersuchen konnte. Mehrere Jahre später war Worobey derjenige, der in einer Probe von kongolesischem Biopsiematerial aus dem Jahr 1960 HIV -Spuren entdeckte.
Worobey vervielfältigte Bruchstücke des Virusgenoms, setzte die Fragmente zusammen, erkannte darin eine frühe Form von HIV -1 und nannte die Sequenz DRC 60. Als er sie mit ZR 59 verglich, dem einzigen anderen frühen Stamm, den man kannte, gelangte er zu einer dramatischen Schlussfolgerung: Das AIDS -Virus war schon Jahrzehnte länger in Menschen heimisch, als irgendjemand geglaubt hatte. Die Pandemie dürfte ihren Ausgangspunkt in einem Übersprung gehabt haben, der bereits 1908 stattfand.
Um richtig einschätzen zu können, was Worobeys Entdeckung bedeutete und wie sie angesichts der bis dahin herrschenden Vorstellungen einschlug, muss man ein wenig über den Zusammenhang wissen. Dazu gehört eine hitzige Diskussion um die Frage, wie HIV -1 eigentlich in Menschen hineingelangt war. Anfang der 1990er Jahre herrschte aufgrund dessen, was man über HIV -2 und die Ruß-Mangaben wusste, und auch aus
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