Spillover
kennzeichnen, wo liegt er dann? Wann fand der schicksalsträchtige Virusstamm, die HIV -1-Gruppe M, den Weg in die menschliche Bevölkerung?
Zwei Indizienketten deuten auf das Jahr 1959 hin.
Im September dieses Jahres starb ein junger Arbeiter im englischen Manchester offensichtlich an einem Versagen der Immunfunktion. Da er mehrere Jahre in der Royal Navy gedient hatte, bevor er in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, wird dieser Mann in der Fachliteratur als »Seemann aus Manchester« bezeichnet. Nach seiner Tätigkeit in der Marine, die er vorwiegend – aber nicht ausschließlich – in England geleistet hatte, ging es mit seiner Gesundheit bergab. Mindestens einmal fuhr er mit dem Schiff bis nach Gibraltar. Nachdem er im November 1957 wieder in Manchester war, verschlechterte sich sein Zustand: Er litt an einigen Symptomen, die man später mit AIDS in Zusammenhang brachte, darunter Gewichtsverlust, Fieber, quälender Husten und opportunistische Infektionen einschließlich Pneumocystis jirovecii . Der Arzt, der die Obduktion vornahm, konnte aber keine eindeutige Todesursache feststellen. Er entnahm dem Seemann kleine Stücke von Nieren, Knochenmark, Milz und anderen Geweben, bettete sie in Paraffin ein – damals das Routineverfahren zur Fixierung pathologischen Probenmaterials – und berichtete in einer medizinischen Fachzeitschrift über den Fall. 31 Jahre später, in der AIDS -Ära, unterzog ein Virusforscher an der Universität Manchester einige der archivierten Proben einem Test und war nach eigenen Angaben überzeugt, er habe einen Beleg für eine HIV -1-Infektion des Seemannes gefunden.
Doch einige Jahre später testeten zwei Wissenschaftler in New York die gleichen Proben noch einmal. Dabei stellte sich heraus, dass es sich bei dem anfänglichen HIV -positiven Ergebnis um einen Fehler im Labor gehandelt haben musste. Vermutlich eine Verunreinigung mit einem neueren Virusstamm. Ergebnis: Der Seemann aus Manchester ist vielleicht tatsächlich an einer Immunschwäche gestorben, aber HIV war wohl nicht die Ursache. Der Fall zeigt, wie schwierig es sein kann, im Rückblick die Diagnose AIDS zu stellen, und das selbst dann, wenn scheinbar stichhaltige Befunde vorliegen.
Kurz nachdem man die falsche Spur aus Manchester entlarvt hatte, tauchte in New York eine andere auf. Man schrieb mittlerweile das Jahr 1998. Eine Arbeitsgruppe an der Rockefeller University unter Leitung von Tuofu Zhu erhielt Archivmaterial aus Afrika, das auf 1959 datiert war, das gleiche Jahr wie die Gewebeproben des Seemanns. Dieses Mal handelte es sich aber nicht um Gewebe, sondern um ein kleines Röhrchen mit Blutplasma, das man im damaligen Léopoldville, der Hauptstadt von Belgisch-Kongo (dem heutigen Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo) einem Mann vom Volke der Bantu entnommen und jahrzehntelang in einer Gefriertruhe aufbewahrt hatte. Über den Namen des Mannes und die Todesursache war nichts bekannt. Die Probe war schon 1986 zusammen mit 1212 anderen Plasmaproben – manche aus dem Archiv, andere neu – aus verschiedenen Regionen Afrikas untersucht worden. Diese war die einzige, die sich dabei eindeutig als HIV -positiv erwiesen hatte. Tuofu Zhu und seine Kollegen gingen der Sache weiter nach, arbeiteten mit dem kleinen noch verbliebenen Rest der ursprünglichen Probe und vervielfältigten Bruchstücke des Virusgenoms mit der Polymerasekettenreaktion. Dann sequenzierten sie die Fragmente und setzten ein genetisches Porträt des Virus aus dem Bantu-Mann zusammen. Ihr Fachartikel erschien im Februar 1998; darin bezeichneten sie die Sequenz als ZR 59 als Hinweis auf Zaire (wie das Land lange hieß) und das Jahr 1959. Wie sich in vergleichenden Analysen herausstellte, war ZR 59 eng mit den Subtypen B und D (Untergruppen innerhalb der HIV -1-Gruppe M ) verwandt, es lag aber ungefähr in der Mitte zwischen beiden – ein Hinweis, dass es vermutlich stark dem gemeinsamen Vorfahren ähnelte. Mit anderen Worten: ZR 59 erlaubte einen Blick in die Vergangenheit und war keine neue Verunreinigung, sondern eine wirklich alte Form von HIV -1. ZR59 war der Beweis, dass HIV -1 schon 1959 in der Bevölkerung von Léopoldville vorkam – dass es existierte, eine Evolution durchlief, sich auseinanderentwickelte. Darüber hinaus war nun noch mehr bewiesen. Durch weitere Analysen von ZR 59 und anderen Sequenzen konnte Bette Korber vom Los Alamos National Laboratory mit ihrer Arbeitsgruppe berechnen, dass die HIV -1-Gruppe M um
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