Spillover
gäbe es keine globale Pandemie und keine Millionen Todesopfer. Als Zweites wurde die Gruppe O abgegrenzt; der Buchstabe steht für outlier (»Sonderfall«): Zu ihr gehört nur eine geringe Zahl von Virusisolaten, und die lassen sich in ihrer Mehrzahl auf eine Region zurückführen, die im Verhältnis zu den Brennpunkten der Pandemie eher am Rande liegt: Gabun, Äquatorial-Guinea und Kamerun, alles Staaten im westlichen Zentralafrika. Als man dann 1998 eine dritte Hauptgruppe entdeckte, erschien es nur logisch sie als N zu bezeichnen, was angeblich »nicht-M/nicht-O« bedeutet, aber auch die alphabetische Reihe vervollständigt. (Jahre später wurde eine vierte Gruppe identifiziert und mit dem Buchstaben P gekennzeichnet.) Die Gruppe N war äußerst selten; man hatte sie nur bei zwei Personen aus Kamerun entdeckt. Durch das seltene Vorkommen der Gruppen N und O rückte die Gruppe M auf dramatische Weise in den Vordergrund. M war überall. Warum hatte sich gerade diese Virus-Abstammungslinie und nicht die beiden (oder drei) anderen so weit und mit so tödlichen Folgen verbreitet?
Bei parallelen Untersuchungen an dem weniger virulenten Virus HIV -2 fand man ebenfalls verschiedene Gruppen, hier waren es sogar noch mehr. Mit ihrer Benennung begann man nicht in der Mitte des Alphabets, sondern am Anfang, und im Jahr 2000 kannte man bereits sieben Gruppen von HIV -2: A, B, C, D, E, F und G . (Eine achte Gruppe tauchte später auf und wurde H genannt.) Auch hier waren die meisten Gruppen äußerst selten – sie waren jeweils nur durch eine Virusprobe aus einem einzigen Menschen repräsentiert. Lediglich die Gruppen A und B waren nicht selten; sie machten die Mehrheit der HIV -2-Infektionen aus. Die Gruppe A war insbesondere in Guinea-Bissau und in Europa häufiger als die Gruppe B. Diese wiederum konnte man vor allem in Staaten im Osten Westafrikas zurückverfolgen, so nach Ghana und C Ô te d’Ivoire. Die Gruppen C bis H waren zwar, was die absoluten Zahlen anging, selten, anderseits waren sie aber sehr vielgestaltig und deshalb von Bedeutung.
Zu Beginn des neuen Jahrhunderts grübelten die AIDS -Forscher also über einer Fülle verschiedener Virus-Abstammungslinien: sieben Gruppen von HIV -2 und drei von HIV -1. Die sieben HIV -2-Gruppen unterschieden sich zwar voneinander, ähnelten aber alle SIV sm , dem Virus, das in den Ruß-Mangaben lebte. (Dies galt auch für die später hinzugekommene Gruppe H.) Alle drei Gruppen von HIV -1 hatten Ähnlichkeit mit SI V cpz aus den Schimpansen. (Die vierte Gruppe P ist am engsten mit SIV aus Gorillas verwandt.) Und nun kommt die Aussage, die uns bei näherem Nachdenken einen Schauder über den Rücken laufen lassen sollte: Nach Überzeugung der Fachleute spiegelt sich in jeder dieser zwölf Gruppen (acht von HIV -2, vier von HIV -1) eine unabhängige speziesübergreifende Übertragung wider. Zwölf Übersprünge.
Mit anderen Worten: HIV ist nicht nur einmal über die Menschheit gekommen. Das ist vielmehr mindestens ein Dutzend Mal passiert – ein Dutzend Ereignisse, von denen wir wissen, und vermutlich viele weitere in früheren Zeiten der Geschichte. Ein höchst unwahrscheinlicher Vorgang war es also nicht. Es war kein einmaliger Fall von ungeheurem Pech, der die Menschheit traf und verheerende Folgen hatte wie der Komet, der aus der Unendlichkeit des Alls kam, auf der Erde einschlug und die Dinosaurier auslöschte. Nein. HIV gelangte vielmehr im Rahmen eines kleinen Trends in das Blut der Menschen. Wegen unserer Art des Umgangs mit afrikanischen Primaten geschieht es offenbar sogar recht oft.
90
Zaire 1959
Das wirft einige große Fragen auf. Angenommen, SIV ist mindestens zwölfmal auf Menschen übergesprungen: Warum kam es dann nur einmal zur AIDS -Pandemie? Und warum brach die Epidemie gerade zu diesem Zeitpunkt aus? Warum nicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte früher? Diese Überlegungen stehen im Zusammenhang mit drei anderen, konkreteren und weniger spekulativen Fragen, die ich bereits angedeutet habe: Wann, wo und wie nahm die AIDS -Pandemie eigentlich ihren Anfang?
Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit dem Wann. Aus den Befunden von Michael Gottlieb wissen wir, dass HIV Ende 1980 bei homosexuellen Männern in Kalifornien angekommen war. An dem Fall von Grethe Rask können wir ablesen, dass es 1977 in Zaire lauerte. Wir wissen, dass Gaëtan Dugas in Wirklichkeit nicht der Patient null war. Aber wenn diese Menschen und Orte nicht den wahren Anfangszeitpunkt
Weitere Kostenlose Bücher