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Spillover

Spillover

Titel: Spillover Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Quammen
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anderen Gründen allgemein die Vorstellung, HIV -1 sei ebenfalls von afrikanischen Primaten übergesprungen und zwar vermutlich bei zwei getrennten Gelegenheiten (entsprechend den damals bekannten Gruppen M und O ) während der Verarbeitung von Affenfleisch durch Menschen. Diese Vorstellung wurde als »Hypothese vom verletzten Jäger« bekannt. Man nahm an, dass ein Mann oder eine Frau den Kadaver eines SIV -positiven Primaten zerlegt und sich über eine offene Wunde infiziert hatte – vielleicht einen Kratzer am Arm –, die mit Blut des Tieres in Berührung kam. Oder eine Wunde im Mund, wenn ein Teil des Fleisches roh verzehrt wurde. Das Einzige, worauf es ankam, war der Blutkontakt. Die Hypothese vom verletzten Jäger war spekulativ, aber plausibel. Sie war naheliegend und weder mit Komplikationen noch mit unwahrscheinlichen Annahmen verbunden. Sie passte zu den bekannten Tatsachen, die allerdings bruchstückhaft waren. Doch im Jahr 1992 tauchte eine Alternativtheorie auf.
    Diese neue Theorie widersprach der Lehrmeinung und war höchst umstritten: Danach gelangte HIV -1 über einen verunreinigten Polio-Impfstoff, der an einer Million arglosen Afrikanern getestet wurde, erstmals in Menschen. Nach dieser Theorie hatte der Impfstoff unabsichtlich für die Verbreitung von AIDS gesorgt. Beängstigend war an der Theorie vom Polio-Impfstoff vor allem, dass sie ebenfalls plausibel erschien.
    Laborverunreinigungen kommen vor, das wissen wir. Selbst Virus- oder Bakterienverunreinigungen von Impfstoffen während der Produktion hat es schon gegeben. Im Jahr 1861 erkrankte eine Gruppe italienischer Kinder, die mit Material unmittelbar »aus einer Pockenpustel« gegen Pocken geimpft worden waren, an Syphilis. 150 Ein Pockenimpfstoff, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Kindern in Camden in Massachusetts verwendet wurde, war offenbar mit Tetanusbakterien verunreinigt, was dazu führte, dass neun Kinder an Tetanus starben. Später begannen die Hersteller, Impfstoffe zu filtrieren, was bakterielle Verunreinigungen sehr wirksam verhindert; Viren konnten aber die Filter passieren. Manchmal wurden die Viren in einem Impfstoff mit Formaldehyd inaktiviert, aber auch das funktionierte nicht immer. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts waren einige der ersten Chargen des Polio-Impfstoffes nach Salk mit einem Virus namens SV 40 verunreinigt, das in Rhesusaffen vorkommt.
    Ob es auch zur Verunreinigung von Impfstoffen mit HIV -1 kam, was dann sehr viel größere Folgen gehabt hätte, ist eine andere Frage. Dass der fragliche Impfstoff an Afrikaner verabreicht wurde, steht außer Zweifel. Zwischen 1957 und 1960 durfte der in Polen geborene amerikanische Wissenschaftler Hilary Koprowski – ein weniger bekannter Konkurrent in dem Wettlauf um den Polio-Impfstoff, an dem auch Salk und Sabin beteiligt waren – seinen Impfstoff im Osten des damaligen Belgisch-Kongo und in angrenzenden Gebieten in großem Umfang versuchsweise einsetzen. Koprowski kam 1957 selbst nach Stanleyville und stellte den Kontakt zu Personen her, die später die Erprobung beaufsichtigten. Wie viele Menschen in den Großversuch einbezogen waren, ist nicht sicher bekannt. Einem Bericht zufolge wurden allein in Léopoldville ungefähr 75000 Kinder geimpft. Die alternative Theorie führt im Zusammenhang mit diesem Unternehmen zwei wesentliche Punkte an: Erstens, Koprowskis Impfstoff sei hergestellt worden, indem man das Virus auf Nierenzellen von Schimpansen züchtete (statt wie üblich auf denen von Tieraffen). Zweitens, zumindest einige Chargen des Impfstoffes seien mithilfe von Schimpansennieren produziert worden, die von SI V cpz -infizierten Tieren stammten.
    Folge dieser Impfaktion, so wurde behauptet, sei eine iatrogene (durch medizinische Maßnahmen entstandene) Infektion einer unbekannten Zahl von Bewohnern Zentralafrikas mit dem Virus gewesen, das später die Bezeichnung HIV -1 erhielt. Nach dieser Vorstellung, die als OPV -Theorie ( oral polio vaccine , oral verabreichter Polio-Impfstoff) bekannt wurde, hätte ein einziger unvorsichtiger Wissenschaftler den Kontinent – und die ganze Welt – mit AIDS überzogen.
    Die OPV -Theorie ist seit 1992 im Umlauf und berühmt-berüchtigt. In der Zeitschrift Rolling Stone schrieb der freie Journalist Tom Curtis seinerzeit einen langen Artikel mit dem Titel »Der Ursprung von AIDS : eine verblüffende neue Theorie versucht die Frage zu beantworten, ob es sich um einen göttlichen Akt oder eine Tat von Menschen handelt.« 151

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