Spillover
derselben kleinen Region: dem Südosten Kameruns. Eine beängstigende, historische Erkenntnis, über die Keele und seine Kollegen begeistert waren. »So etwas kann man nicht erfinden, wie Beatrice sagen würde. Dafür ist es einfach zu gut.« Die Freude dauerte ungefähr zehn Sekunden; danach waren alle erpicht auf weitere Proben und weitere Ergebnisse. »Die Feier ist immer vorläufig«, sagt Keele, »bis du den Artikel geschrieben und das Annahmeschreiben von der Redaktion von Science in der Hand hast.«
Jetzt sequenzierten Keele und seine Arbeitsgruppe nicht nur Bruchstücke, sondern vollständige Genome aus vier Proben, die alle aus derselben Region stammten; diese Sequenzen unterwarfen sie dann erneut ihren genetischen Analysen. Wieder stellte sich heraus, dass das neue SI V cpz erschreckend stark der HIV -1-Gruppe M ähnelte. Die Übereinstimmung war so groß, dass es fast keine andere, bisher nicht entdeckte, noch ähnlichere Variante mehr geben konnte. Hahns Labor hatte den geographischen Ausgangspunkt der Pandemie ausfindig gemacht.
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Ground Zero im Kongo
Damit war nicht nur das Wann, sondern auch das Wo geklärt. AIDS begann damit, dass das Virus um das Jahr 1908 im Südosten Kameruns von einem Schimpansen auf einen Menschen übersprang. Von dort aus verbreitete es sich langsam, aber unaufhaltsam. Damit sind wir bei der dritten Frage: Wie?
Der Artikel von Keele erschien am 28. Juli 2006 in Science unter dem Titel »Schimpansen als Reservoir für pandemisches und nichtpandemisches HIV -1«. Brandon Keele war der erste Autor, die übliche Liste der Koautoren umfasste unter anderem Mario Santiago, Martine Peeters, mehrere Partner aus Kamerun und – wiederum an letzter Stelle – Beatrice Hahn. Die Daten waren faszinierend, die Schlussfolgerungen wohl überlegt, die Sprache vorsichtig gewählt und prägnant. Gegen Ende jedoch lassen die Autoren ihren Vermutungen freien Lauf:
Wie wir hier zeigen konnten, gehört der Stamm SI V cpzptt , aus dem die HIV -1-Gruppe M hervorgegangen ist, zu einer Virus-Abstammungslinie, die bei Menschenaffen der Spezies P. t. troglodytes im Südosten Kameruns bis heute erhalten ist. Dieses Virus wurde vermutlich lokal übertragen. Von dort hat es offenbar den Weg über den Fluss Sangha (oder andere Nebenflüsse) nach Süden zum Kongo-Fluss und weiter nach Kinshasa gefunden, wo die Pandemie der Gruppe M vermutlich ihren Anfang nahm. 156
Die Formulierung »lokal übertragen« war schwammig. Durch welchen Mechanismus, unter welchen Umständen? Wie kam es zu diesen entscheidenden Ereignissen, und wie spielten sie sich ab?
Mit dieser Frage hatte sich Hahn selbst zusammen mit drei Koautoren bereits im Jahr 2000 befasst; damals hatte sie zum ersten Mal die Vorstellung vertreten, AIDS sei eine Zoonose: »Beim Menschen ist der unmittelbare Kontakt mit Blut und Sekreten von Tieren durch Jagd, Zerlegen und andere Tätigkeiten (wie den Verzehr nicht gegarten, kontaminierten Fleisches) eine plausible Erklärung für die Übertragung.« 157 Damit spielte sie auf die Hypothese vom verletzten Jäger an. In jüngerer Zeit äußerte sie sich erneut zu dem Thema: »Der wahrscheinlichste Übertragungsweg vom Schimpansen zum Menschen führt über den Kontakt mit infiziertem Blut und Körperflüssigkeiten während des Zerlegens von Buschfleisch.« 158 Ein Mensch tötet einen Schimpansen, häutet ihn, zerlegt ihn und zieht sich dabei einen Schnitt an der Hand zu, was zu unmittelbarem Blutkontakt führt. SI V cpz überwindet die Artgrenze vom Schimpansen zum Menschen, setzt sich in dem neuen Wirt fest und wird zu HIV -1. Wie dieser Vorgang im Einzelnen ablief, kann man nicht wissen, aber er ist plausibel und passt zu den nachgewiesenen Tatsachen. In irgendeiner Form bietet das Szenario vom verletzten Jäger, das sich um 1908 in einem Wald im Südosten Kameruns abgespielt hat, nicht nur eine Erklärung für die Daten von Keele, sondern auch für den von Micheal Worobey postulierten Zeitpunkt. Aber wie ging es dann weiter? Zunächst einmal war nur ein Mensch im Südosten Kameruns infiziert.
»Angenommen, der Übersprung hat dort stattgefunden, wie begann dann die Epidemie in Kinshasa?«, will ich von Hahn wissen.
»Nun ja, es gibt eine ganze Reihe Flüsse, die von dieser Region nach Kinshasa fließen«, erwidert sie. »Wenn man der Spekulation, der Hypothese folgt, ist das Virus auf dieser Route gereist – und zwar nicht in Menschenaffen, sondern in Menschen. Die Affen haben sich nicht in ein
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