Spillover
vorhandenen Indizien erlauben es, die möglichen Abläufe in Umrissen zu skizzieren.
Das Virus lauerte in der Stadt. Es vermehrte sich in einzelnen Menschen. Es wurde durch sexuelle Kontakte weitergegeben, möglicherweise auch durch mehrfach benutzte Spritzen und Kanülen während der Behandlung bekannter Krankheiten wie der Trypanosomiasis. (Auf diese Möglichkeit werde ich in Kürze noch genauer zu sprechen kommen.) Unabhängig von den Übertragungswegen verursachte HIV vermutlich bei den meisten Infizierten eine Immunschwäche, die schließlich zum Tod führte – außer bei jenen, die vorher aus anderen Gründen starben. Es machte sich aber nicht so deutlich bemerkbar, dass man darin ein eigenständiges neues Phänomen erkannt hätte.
Auch in Brazzaville, auf der anderen Seite des Sees, dürfte es sich langsam vermehrt haben, und auch dort halfen ihm vermutlich der Wandel der sexuellen Gepflogenheiten und medizinische Programme, bei denen Spritzen zum Einsatz kamen. Außerdem trieb es sich wahrscheinlich in den Dörfern im Südosten Kameruns oder an anderen Stellen in den Niederungen am Oberlauf des Sangha herum.
Und wo es auch war, ganz sicher aber in Léopoldville, mutierte es weiter. Das können wir an der starken Auseinanderentwicklung von ZR 59 und DRC 60 ablesen. Seine Evolution setzte sich fort.
Die Untersuchung der Evolutionsvergangenheit von HIV -1 ist mehr als nur eine rein akademische Übung. Man will damit verstehen, wie ein Stamm des Virus (die Gruppe M ) so tödlich werden und sich unter den Menschen so weit verbreiten konnte. Derartige Erkenntnisse führen dann unter Umständen zu besseren Methoden, um die verheerenden Wirkungen von AIDS zu bekämpfen – möglicherweise mit einem Impfstoff, wahrscheinlicher aber mit verbesserten Therapieverfahren. Das ist der Grund, warum Wissenschaftler wie Beatrice Hahn, Michael Worobey und ihre Kollegen die molekulare Phylogenetik von HIV -1, HIV -2 und den verschiedenen SIV s aufklären wollen. Unter anderem beschäftigen sie sich mit der Frage, ob das Virus vor oder erst nach seinem Übersprung von den Schimpansen virulent wurde. Oder, um die Frage einfacher zu formulieren: Sterben auch Schimpansen an SI V cpz , oder ist der Erreger bei ihnen nur ein harmloser Passagier? Eine Antwort auf diese Frage könnte wichtige Aufschlüsse darüber liefern, wie der Organismus des Menschen auf HIV -1 reagiert.
Nach der Entdeckung von SI V cpz herrschte eine Zeit lang der Eindruck, als sei das Virus bei Schimpansen harmlos – eine uralte Infektion, die früher vielleicht Symptome verursachte, es aber heute nicht mehr tut. Für diese Vermutung sprach die Tatsache, dass man in den ersten Jahren der AIDS -Forschung mehr als 100 Schimpansen in Gefangenschaft künstlich mit HIV -1 infiziert hatte, ohne dass es bei einem einzigen zu einer Immunschwäche gekommen wäre. Als ein einziger Laborschimpanse schließlich doch AIDS bekam (nachdem man ihn zehn Jahre zuvor im Experiment mit drei verschiedenen Stämmen von HIV -1 infiziert hatte), galt dieser Fall als so bemerkenswert, dass man ihn mit einem sechsseitigen Artikel im Journal of Virology würdigte. Unausgesprochen sagten die Wissenschaftler darin, dies sei eine gute Nachricht, denn nun gebe es endlich die Hoffnung, dass der Schimpanse ein geeignetes experimentelles Modell für die Erforschung der AIDS -Erkrankung von Menschen darstellte. Aufgrund der genetischen Analyse von in den Niederlanden gehaltenen Tieren wurde sogar die Vermutung geäußert, die Schimpansen hätten vor mehr als zwei Millionen Jahren »ihre eigene AIDS -ähnliche Pandemie überlebt«. 161 Diesem Artikel zufolge hätten sie von der Krankheit genetische Anpassungen zurückbehalten, durch die sie nun resistent gegen die Wirkungen des Virus seien. Sie trügen es nach wie vor in sich, erkrankten aber offenbar nicht. Diese These stützte sich, wie gesagt, auf Untersuchungen an Schimpansen, die in menschlicher Obhut leben. Was die SIV -positiven Menschenaffen in freier Wildbahn betraf, wusste niemand, ob sie an einer Immunschwäche leiden. Diese Frage zu untersuchen, war schwierig.
Diese Annahmen und Vermutungen stimmten mit den vorhandenen Informationen über andere Varianten des Virus bei anderen Primaten überein. SIV ist höchst vielgestaltig und weit verbreitet: Man findet es als natürlich vorkommende Infektion bei mehr als vierzig afrikanischen Tier- und Menschenaffenarten. (Allerdings scheint es auf Afrika begrenzt zu sein. Manche asiatischen
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