Spillover
auf Viren gestützt hatte, die aus Schimpansen in Gefangenschaft stammten, blieb zumindest während zweier weiterer Jahre ein Hauch von Unsicherheit, was die Infektion wilder Schimpansen anging. Im Jahr 2002 schließlich gab Mario L. Santiago an der Spitze einer ganzen Liste von Koautoren in dem Fachblatt Science bekannt, man habe SI V cpz auch in freier Wildbahn entdeckt. Santiago war ein Doktorand von Beatrice Hahn.
Einer der wichtigsten Aspekte von Santiagos Arbeiten, für die er den hochverdienten Doktortitel bekam, war die Entwicklung geeigneter Methoden, um SIV bei einem wilden Schimpansen (es war nur ein einziges von 58 getesteten Tieren) nachweisen zu können. Es handelt sich um »nichtinvasive« Verfahren, das heißt, man braucht weder einen Schimpansen einzufangen noch ihm Blut abzunehmen. Der Wissenschaftler (oder einer seiner Assistenten) verfolgt die Tiere einfach im Wald, hält ein Becherchen hin, wenn sie Wasser lassen, füllt die Proben in kleine Röhrchen und durchsucht sie nach Antikörpern. Wie sich herausstellte, kann Urin nahezu ebenso gute Ergebnisse liefern wie Blut.
»Das war ein Durchbruch«, erklärt mir Beatrice Hahn, als ich mich in ihrem Institut in Birmingham mit ihr unterhalte. »Wir waren nicht sicher, ob es funktioniert.« Aber Santiago ging das Risiko ein, arbeitete die Methodik aus – und es funktionierte. Der allererste SIV -positive Urin stammte von einem wilden Schimpansen aus der berühmtesten Schimpansengruppe der Welt: dem Verband im Gombe-Nationalpark in Tansania, an dem Jane Goodall seit 1960 ihre historischen Feldstudien durchgeführt hatte. Diese Probe stimmte mit HIV -1 nicht ganz so gut überein wie die von Feng Gao, und sie stammte auch von einem Tier, das zu einer anderen Unterart gehörte, nämlich dem Ostafrikanischen Schimpansen ( Pan troglodytes schweinfurthii ). Aber trotz allem handelte es sich um SI V cpz.
In Gombe Proben zu gewinnen, hat nach Hahns Worten den Vorteil, dass die Schimpansen nicht weglaufen. Sie sind echte Wildtiere, aber da sie schon seit vierzig Jahren von Goodall und ihren Nachfolgern erforscht werden, haben sie sich an die Gegenwart der Menschen gewöhnt. Anderenorts ist die Methode der Urin-Reihenuntersuchungen nicht praktikabel. »Wissen Sie, Schimpansen, die nicht an Menschen gewöhnt sind, lassen einen nicht so nah heran, dass man ihr Pipi auffangen kann.« Natürlich kann man ihren Kot vom Waldboden aufsammeln, aber der ist nutzlos, wenn man ihn nicht irgendwie konserviert; frische Exkremente enthalten eine Fülle von Proteasen, Verdauungsenzyme, die alle Hinweise auf Viren längst vernichtet haben, bis das Material im Labor ankommt. Mit solchen Einschränkungen müssen sich Molekularbiologen bei der Untersuchung wilder Tiere herumschlagen: Blut, Kot und Urin sind nicht immer und überall verfügbar.
Das Problem der Zersetzung von Exkrementen wurde wenig später von Brandon F. Keele gelöst, auch er einer von Hahns jungen Zauberlehrlingen. Dazu experimentierte er mit » RNA later«, einem flüssigen Stabilisator, den ein Unternehmen im texanischen Austin zur Konservierung von Nucleinsäuren in Gewebeproben herstellt. Der Name » RNA later« beschreibt sehr anschaulich seine Funktion: Mit der Substanz kann man RNA aus einer Probe gewinnen – und zwar später. Wenn das mit der RNA im Gewebe funktioniert, so Keeles Überlegung, klappt es vielleicht auch mit Antikörpern in Exkrementen. Tatsächlich funktionierte es, nachdem er und seine Kollegen die chemischen Schwierigkeiten, die Antikörper anschließend wieder vom Fixiermittel zu lösen, aus dem Weg geräumt hatten. Das neue Verfahren bedeutete, dass man das Spektrum der Reihenuntersuchungen an Wildschimpansen stark erweitern konnte. Jetzt konnten die Feldassistenten Hunderte von Exkrementproben sammeln und jede davon in ein kleines Röhrchen mit RNA later fallen lassen. Diese Proben – die man ohne Kühlung aufbewahren und in ein weit entferntes Labor transportieren kann – geben dann später ihre Geheimnisse preis. »Wenn wir die Antikörper finden, wissen wir, dass die Schimpansen infiziert sind«, sagt Hahn. »Anschließend können wir uns dann auf die infizierten Individuen konzentrieren und uns darum bemühen, aus ihnen die Viren zu gewinnen.« Antikörpertests sind einfach und gehen schnell. Die PCR -Vervielfältigung und die anderen Schritte zum Nachweis von Virus- RNA -Bruchstücken sind weitaus aufwändiger. Mit den neuen Methoden konnten Hahn und ihre Arbeitsgruppe
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