Spillover
ein Jahrhundert nach dem Ereignis – erschien, standen auch Jean-Jacques Muyembe, Jean-Marie Kabongo und Dirk Teuwen auf der Liste der Koautoren. Worobey schrieb:
Die von uns geschätzte Zeit der Auseinanderentwicklung, deren evolutionärer Zeitmaßstab mehrere Jahrzehnte überbrückt, weist in Verbindung mit dem großen genetischen Abstand zwischen DRC 60 und ZR 59 darauf hin, dass die Evolution dieser Viren von einem gemeinsamen Vorfahren ausging, der in der afrikanischen Bevölkerung um den Beginn des 20. Jahrhunderts herum im Umlauf war. 154
Zu mir sagt er: »Das war beim Menschen kein neues Virus.«
Mit Worobeys Arbeiten war die OPV-Hypothese eindeutig widerlegt. Wenn es HIV -1 schon 1908 bei Menschen gab, kann es natürlich nicht bei der Erprobung eines Impfstoffes, die 1958 begann, in unsere Spezies gelangt sein. Diese klare Aussage war wertvoll – aber sie war nur ein Teil von Worobeys wissenschaftlichem Beitrag. Die zeitliche Einordnung des entscheidenden Übersprungs war ein großer Schritt zur Klärung der Frage, wie die AIDS -Pandemie beginnen und sich verbreiten konnte.
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Exkrementalchemie
Ebenso wichtig war aber auch die räumliche Einordnung des Übersprungs, und die gelang einem anderen Institut. Beatrice Hahn ist ein wenig älter als Worobey und beschäftigte sich schon lange, bevor er DRC 60 fand, mit den Ursprüngen von AIDS .
Hahn ist in Deutschland geboren, studierte in München Medizin und kam 1982 in die Vereinigten Staaten. Als Postdoc arbeitete sie im Labor von Robert Gallo, wo sie Retroviren erforschte. Dann wurde sie Professorin für Medizin und Mikrobiologie an der University of Alabama in Birmingham und Mitglied des Direktoriums eines Zentrums für AIDS -Forschung. In Alabama blieb sie bis 2011; in diese Zeit fällt der größte Teil der hier beschriebenen Arbeiten. Seitdem forscht sie an der Perelman School of Medicine der University of Pennsylvania in Philadelphia. Das übergeordnete Ziel von Hahns vielfältigen Forschungsprojekten, das sie auch mit Worobey gemeinsam hat, ist die Aufklärung der Evolutionsvergangenheit von HIV -1 sowie seiner Verwandten und Vorläufer. Als ich Worobey um eine Beschreibung seines Fachgebietes bat, sagte er »molekulare Phylogenetik«. Ein Molekular-Phylogenetiker analysiert die Nucleotidsequenzen in der DNA oder RNA verschiedener Organismen, vergleicht sie und stellt sie einander gegenüber. Der Grund ist der gleiche, weshalb ein Paläontologe versteinerte Knochenbruchstücke ausgestorbener Riesenechsen untersucht: Man will den Verlauf der Abstammungslinien und ihre Evolutionsvergangenheit kennenlernen. Beatrice Hahn verfolgt darüber hinaus aber als Ärztin noch einen weiteren Zweck: Sie will herausfinden, wie die Gene von HIV -1 die Krankheit verursachen, um so bessere Methoden zur Behandlung und Vorbeugung entwickeln zu können.
Aus Hahns Institut kamen in den letzten beiden Jahrzehnten einige hochinteressante Veröffentlichungen. Viele davon erschienen mit einem jüngeren Wissenschaftler als erstem Autor, während Hahn in der traditionellen Rolle des Mentors an letzter Stelle der Autorenliste steht. So war es 1999, als Feng Gao eine phylogenetische Studie zu SIV cpz und seiner Verwandtschaft zu HIV -1 veröffentlichte. Zu jener Zeit kannte man nur drei Stämme von SIV cpz , die alle von gefangenen Menschenaffen stammten; mit Gaos Aufsatz kam ein vierter hinzu. Die Arbeit erschien in Nature , und ein begleitender Kommentar bezeichnete sie als »den bisher überzeugendsten Beleg, dass HIV -1 vom Schimpansen Pan troglodytes auf den Menschen übergesprungen ist«. 155 Genau genommen verfolgten Gao und seine Kollegen HIV -1 nicht nur zu den Schimpansen zurück; ihre Analyse der Virusstämme stellte eine Verbindung zu Individuen einer ganz bestimmten Unterart her, die als Zentralafrikanischer Schimpanse ( Pan troglodytes troglodytes ) bezeichnet wird: Sein SIV sprang über und wurde zur HIV -1-Gruppe M. Die Schimpansen dieser Unterart leben nur im westlichen Zentralafrika nördlich des Flusses Kongo und westlich des Ubangi. Mit seiner Studie hatte Gao also letztlich sowohl den Reservoirwirt als auch die geographische Region, in der AIDS entstanden sein muss, identifiziert. Wie groß diese Entdeckung war, spiegelte sich auch in der Überschrift des Nature -Kommentars wider: »Von Pan zur Pandemie«. Feng Gao war zu jener Zeit Postdoc im Labor von Hahn.
Aber da Gao sich (genau wie vor ihm auch Martine Peeters) mit seinen genetischen Vergleichen
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