Spillover
solche ndumba hatte vielleicht zwei oder drei Freunde, die regelmäßig zu ihr kamen und sie mit Geld versorgten. Eine andere Variante war die ménagère , die »Haushälterin«, die bei einem weißen Kolonialbeamten lebte und mehr tat, als nur das Haus in Ordnung zu halten. Das alles waren kommerzielle Arrangements, aber sie nahmen nicht jene Form der ausschweifenden Promiskuität an, mit deren Hilfe sich ein sexuell übertragbares Virus rasch ausbreiten kann.
Auf der anderen Seite des Stanley-Pools, in Léopoldville, war das Geschlechterverhältnis zur gleichen Zeit noch schlechter. Diese Ortschaft war im Wesentlichen ein Arbeiterlager: Sie wurde von den belgischen Verwaltern kontrolliert, hatte Familien nichts zu bieten, und das Verhältnis von Männern zu Frauen lag 1910 bei 10 zu 1. Reisen durch ländliche Gebiete und der Zutritt zu Léopoldville unterlagen insbesondere für erwachsene Frauen strengen Beschränkungen, manchen Frauen gelang es allerdings, sich falsche Papiere zu beschaffen oder der Polizei zu entgehen. Für ein abenteuerlustiges Mädchen, das schlecht ernährt und schlecht behandelt in einem der Dörfer saß, hatte die Vorstellung, in Léopoldville eine ndumba zu werden, sicher einen gewissen Reiz. Aber obwohl auf jede Frau zehn sexhungrige Männer kamen, spielte sich das Sexgeschäft auch hier nicht in Bordellen oder auf einem Straßenstrich ab. Freie Frauen hatten ihre besonderen Freunde, ihre Kunden – vielleicht mehrere parallel, aber die in atemberaubendem Tempo wechselnden, zahlreichen Sexualkontakte existierten noch nicht. Ein Experte sprach im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit einer HIV -Übertragung von einer »risikoarmen Form der Prostitution«. 160
In Léopoldville gab es auch einen belebten Markt. Dort wurden Räucherfisch, Elfenbein, Kautschuk und Sklaven für den Export gehandelt; die Profite flossen bis weit in die Kolonialzeit hinein vorwiegend an weiße Konzessionäre. Zwischen dem Stanley-Pool und der Flussmündung lagen zwar eine tiefe Schlucht und eine Reihe unüberwindlicher Wasserfälle, die beide Städte vom Atlantik trennten, aber eine 1898 erbaute Eisenbahnlinie durchbrach die Isolation. Sie brachte mehr Waren und Handel, die wiederum brachten mehr Menschen, und 1929 löste Léopoldville die weiter stromabwärts gelegenen Stadt Boma als Hauptstadt von Belgisch-Kongo ab. Bis 1940 war die Bevölkerung auf 49000 angewachsen. Dann beschleunigte sich die demographische Entwicklung. Zwischen 1940 und 1960, dem Jahr der Unabhängigkeit, verzehnfachte sich die Einwohnerzahl; die Stadt wuchs auf ungefähr 400000 Menschen an. Aus Léopoldville wurde Kinshasa, eine afrikanische Metropole des 20. Jahrhunderts, in der das Leben ganz anders ablief als in einem Dorf in Kamerun. Die zehnfache Bevölkerungszunahme und der damit einhergehende Wandel der gesellschaftlichen Beziehungen dürften zu einem großen Teil erklären, warum HIV »plötzlich« an Fahrt gewann. Der Virusträger ZR59 infizierte sich 1959, und ein Jahr später widerfuhr das Gleiche in derselben Stadt auch dem Träger von DRC 60. Zu jener Zeit hatte sich das Virus so stark vermehrt und durch Mutationen auseinanderentwickelt, dass DRC60 und ZR 59 bereits ganz unterschiedliche Stämme repräsentierten. R 0 muss jetzt deutlich über 1,0 gelegen haben, und die neue Krankheit breitete sich aus – zunächst in den beiden Städten, dann auch darüber hinaus. »Wissen Sie«, sagt Hahn, »da war ein Virus genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
Als ich Anfang 2007 Keeles Ausführungen über die Befunde und Analysen an den Schimpansen lese, fällt mir der Unterkiefer herunter. Diese Leute hatten den Ground Zero, wenn nicht sogar den Patienten null ausfindig gemacht. Und beim Blick auf die Landkarte – die Abbildung 1 in dem Artikel von Keele, die den südöstlichen Winkel Kameruns und seine Umgebung zeigt – finde ich Orte wieder, die ich kenne. Ein Dorf, in dem ich übernachtet habe. Ein Fluss, den ich in einem motorisierten Kahn hinaufgefahren bin. Wie sich herausstellt, habe ich sieben Jahre zuvor auf meinen Wanderungen mit Mike Fay nicht nur zu Fuß das Ebola-Land durchquert, sondern wir sind auch nahe an der Wiege von AIDS vorbeigekommen.
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Jagende Schimpansen
Wenn das Virus etwa um 1920 nach Léopoldville gelangt sein sollte, bleibt immer noch eine Lücke von vier Jahrzehnten bis zu ZR 59 und DRC 60, den ältesten archivierten HIV -Sequenzen. Was geschah in der Zwischenzeit? Wir wissen es nicht, aber die
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